Donnerstag, 11. Februar 2010
Westerwelle und die "römische Dekadenz"
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,677225,00.html
11.02.2010
Westerwelles Sozialstaatsattacke
Er kam, sah und patzte
Ein Kommentar von Thorsten Dörting
Man muss kein Populist sein, auch kein Anhänger der Linkspartei, ja man muss nicht einmal finden, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind, um Westerwelles so warnende Worte als das zu sehen, was sie sind: Eine historisch unhaltbare, perfide, aus rein politischem Kalkül betriebene Beleidigung des schwächsten Teils der deutschen Bevölkerung.
Wenn Westerwelle über spätrömische Dekadenz in Deutschland reden will, sollte er über andere Menschen reden als Hartz-Empfänger - doch dann müsste er seine eigene Klientel beleidigen. Die Historiker sind notorisch zerstritten, wenn es um die Frage geht, wie das Römische Reich im Orkus der Geschichte verschwinden konnte. Die Invasion der Barbaren aus dem Norden und die ständige Bedrohung durch das Persische Reich im Osten stehen relativ weit oben auf der Liste, auch der Aufstieg des Christentums mag das römische Staats- und Gesellschaftswesen unterminiert haben.
Dekadenz des Geistes
Nur in einem sind sie sich ziemlich sicher: Wenn da etwas richtig faul war im Staate Rom, dann die intellektuell korrumpierte und luxussüchtige Elite. Also das eine Prozent der Bevölkerung, das alle Reichtümer Roms unter sich aufteilte - aber ganz sicher nicht die verarmte Unterschicht.
Guido der Seher hätte also von materieller Dekadenz in Deutschland sprechen können, über die Banker zum Beispiel, die nach einer Krise, an deren Folgen die ganze Welt leidet und die sie maßgeblich verantwortet haben, nun fette Boni einstreichen. Und er könnte - ohne dem Stammtisch das Wort zu reden - auch vom lebensfernen Dasein der Berliner Classe Politique berichten, von fahrbereitschaftlich zur Verfügung gestellten Luxuskarossen, von Empfängen und Anlässen, bei denen Büffets aufgetürmt sind, so reichlich bestückt, das noch jedem Hartz-IV-Empfänger der Magen übergehen würde.
Aber Westerwelle ist Chef einer Partei der Besserverdienenden, einer Elitenpartei. Und einer FDP, die - und hierin steckt womöglich der größte Affront - derzeit zumindest nach außen hin als intellektuell verkommen erscheint. Sie betet den Liberalismus als Glaubensbekenntnis herunter, nur um gleichzeitig ihrer Klientel großzügige Staatsgeschenke zu überreichen, die jeder liberalen Marktlogik widersprechen.
Statt sich um das Gemeinwohl zu sorgen, schaufelten sich die Machthaber im alten Rom mit Luxus zu und garnierten diese Selbstversorgung auf Kosten der Allgemeinheit mit wohlfeilen Worten. Der Verfall des Staates ging einher mit einem Verfall der Sitten und dem Verrat an einem Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit - so nahm das Ende des Imperiums seinen Anfang.
Wenn man sich also der berühmt-berüchtigten Anfänge erwehren will, wenn es also in Deutschland tatsächlich eine Dekadenz geben sollte, über die man jetzt dringend reden müsste, dann ist es die des Geistes, die in Guido Westerwelles Worten ihren schamlosen Ausdruck gefunden hat.
Errechnung der Hartz-IV-Regelsätze (Stand 2003) | |||
Kategorie | Ausgaben* | Anteil in Prozent, den die Regierung Hartz-IV-Empfängern anerkennt | Hartz-IV-Bezug in Euro |
Nahrungsmittel, Getränke, Tabakwaren | 133 | 96% | 127 |
Bekleidung und Schuhe | 34 | 100% | 34 |
Wohnen einschl. Energie, -instandhaltung | 322 | 8% | 24 |
Einrichtungs-, Haushaltsgegenstände | 27 | 91% | 25 |
Gesundheitspflege | 18 | 71% | 13 |
Verkehr | 59 | 26% | 16 |
Nachrichtenübermittlung | 40 | 75% | 30 |
Freizeit, Unterhaltung, Kultur | 71 | 55% | 39 |
Bildungswesen | 7 | 0% | 0 |
Beherbergungs- /Gaststättendienstleistung | 28 | 29% | 8 |
Andere Waren und Dienstleistungen | 40 | 67% | 27 |
Insgesamt | 779 | ||
Insgesamt ohne Wohnkosten | 483 | 345 | |
*Errechnung des Hartz-IV-Satzes auf Basis der Verbrauchsausgaben der untersten 20 Prozent der nach Nettoeinkommen geschichteten alleinstehenden Haushalte. Empfänger, die überwiegend von Leistungen der Sozialhilfe gelebt haben, sind nicht berücksichtigt. Quelle: EVS 2003 **Seit 1. Juli 2009 beträgt der Regelsatz 359 €. |
Westerwaves Vorwurf der Dekadenz ist nicht an die Hartz4 Bezieher gerichtet. Ihr (Über-)Lebensstil ist weit von zu viel Luxus entfernt, und eine schlechte Moral kann ihnen selbst im Durchschnitt nicht vorgeworfen werden.
AntwortenLöschenDekadenz im römischen Sinne kann es nur bei 2 Personengruppen geben, den Staatslenkern und den Steuerzahlenden Leistungserbringern. Im alten Rom waren diese Merkmale wohl in einer Staatselite konzentriert. In unserer heutigen Demokratie entscheiden die Politiker und Erwirtschaften des Geldes übernehmen alle Steuerzahler gemeinsam.
Die Politiker werden dekadent, wenn sie mehr Wohltaten verteilen, als dem Staat zur Verfügung steht, nur um beim nächsten mal wiedergewählt zu werden (egoitisches Ziel). Nach dieser Sichtweise waren bislang alle Politiker dekadent, mit Ausnahme des Kanzlers Schröder.
Aber auch die wirtschaftenden Steuerzahler (ausdrücklich nicht die Hilfeempfänger), und damit der Großteil der Gesellschaft kann dekadent werden. Nicht dadurch, dass sie durch ihre Steuern Almosen an andere Verteilen um ihre Menschenwürde zu wahren. Das ist sehr moralisch und nicht dekadent. Dekadenz entsteht, wenn die Mehrheit solch ein Almosensystem geschaffen hat, das sie für so ausreichend erachtet, dass dadurch die individuelle Motivation zur Leistung geschwächt wird. Wenn der achtzehnjährige es sich 10x überlegen muss, den Berufsstart zu wählen oder das soziale Netz, ist das System in Gefahr. (Und das gilt nicht nur für reiche, sondern jeden steuerzahler, deswegen ist es keine arm-reich Debatte).
Wir brauchen Anerkennung. Anerkennung für das schwere Los von Menschen, die in unserer Wirtschaft keinen Arbeitsplatz zugelost bekamen. Und Anerkennung für alle Arbeiter und Manager. Sie sollten mit Stolz erfüllt sein, 2 Mio Hartz4-Empfängern (Zahl geschätzt) ein menschenwürdiges Leben zu gewähren. Und natürlich muss ihr Lebensstandard viel höher sein als das der Armen. Und deswegen sollte man nicht die Reichen beleidigen.
Für einen reichen/Presse/Politiker der Reichen sollte es verpöhnt sein, einen armen schmähen. (Das macht auch keiner) Aber ein Armer/linke Politik/Presse sollte auch nicht Porschefahrer verpöhnen. (Das macht jeder Linke-Politiker). Der Porsche sorgt für den Unterschied der erforderlich ist, um in den Köpfen von Menschen Ziele zu verankern die sie dazu bringt, ihre Lebensszeit, Gesundheit, Ausbildungsjugend und Geld als riskantes Eigenkapital in die Wirtschaft zu investieren.
Hm, also ein Porsche hat mich nie zum Arbeiten animiert...
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