Karlsruhe entzieht Hartz-IV Kartenhaus den Boden
Von Edmund Neun | 9.Februar 2010Am heutigen Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht zur Sozialgesetzgebung rund um Hartz-IV ein Urteil gesprochen, das an Süffisanz besonders für den geübten Leser zum Teil kaum mehr zu übertreffen ist.
Es beginnt, wie in Urteilstexten üblich, mit einer Darstellung des Sachverhalts und der Problematik. Dennoch nehmen sich die obersten deutschen Richter nicht allzuviel Zeit, auf den Kern der Sache zu kommen:
Im Vergleich zu den Regelungen nach dem früheren Bundessozialhilfegesetz(BSHG) wird die Regelleistung nach dem SGB II weitgehend pauschaliert; eine Erhöhung für den Alltagsbedarf ist ausgeschlossen.“Alle über einen Kamm” scheint im Bereich der Sozialgesetzgebung demnach für die Verfassungsrichter bei allem Populismus kein gangbarer Weg zu sein.
Wer einen Verfassungsrechtler schon einmal in einer Vorlesung erlebt hat, wird zustimmen, dass folgendes Zitat aus dem Urteil jedenfalls aus der Sicht des Gesetzgebers kaum Gutes verheißt:
Weiterhin erfolgten Abschläge unter anderem in der Abteilung 03 Bekleidung und Schuhe) zum Beispiel für Pelze und Maßkleidung, in der Abteilung 04 (Wohnung etc.) bei der Ausgabenposition Strom, in der Abteilung 07 (Verkehr) wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge und in der Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) zum Beispiel für Segelflugzeuge.Was sich zunächst ausnimmt wie eine launige Petitesse und Randnotiz gewinnt in der späteren Argumentation der Richter an Gewicht.
Der für das Jahr 1998 errechnete Betrag wurde nach den Regelungen, die für die jährliche Anpassung der Regelleistung nach dem SGB II und der Regelsätze nach dem SGB XII gelten, entsprechend der Entwicklung des aktuellen Rentenwertes in der gesetzlichen Rentenversicherung (vgl. § 68 SGB VI) auf den 1. Januar 2005 hochgerechnet.Das aber kritisiert das Bundesverfassungsgericht auf Grund der Tatsache, dass bloß zur einmaligen Auszahlung vorgesehene Zusatzleistungen nicht allen Lebensumständen gerecht werden können, die unter besonderen Bedingungen Leistungsemfänger ein verfassungsgemäß menschenwürdiges Überleben sichern können. Wer sich in die Lage eines Gehbehinderten hineinversetzt, wird eventuell ermessen, was die Richter meinen könnten. Zusatzleistungen, die besondere Lebensumstände berücksichtigen sind nach Auffassung der Karlsruher Richter
zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums jedoch zwingend zu decken (…).Das Gericht ordnet daher an, dass
dieser Anspruch nach Maßgabe der Urteilsgründeunmittelbar aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG zu Lasten des Bundes geltend gemacht werden kannsolange der Gesetzgeber keine Regelungen trifft, die den im Folgenden in der Urteilsbegründung dargelegten Erwägungen gerecht werden.
Zwar mischt sich das oberste deutsche Gericht nicht in die Frage ein, wie hoch ein Förderanspruch konkret ist und gesteht dem Gesetzgeber in der Ausgestaltung einen Ermessensspielraum zu. Das Urteil kommt jedoch klar zu dem Schluss, dass der Gesetzgeber nachvollziehbare und transparente Berechnungsgrundlagen für seine Regelungen zu treffen hat.
Zur Ermöglichung dieser verfassungsgerichtlichen Kontrolle besteht für den Gesetzgeber die Obliegenheit, die zur Bestimmung des Existenzminimums im Gesetzgebungsverfahren eingesetzten Methoden und Berechnungsschritte nachvollziehbar offen zu legen. Kommt er ihr nicht hinreichend nach, steht die Ermittlung des Existenzminimums bereits wegen dieser Mängel nicht mehr mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang.Dem insbesondere von der FDP in fast schon dümmlich zu nennender Manier immer wieder vorgetragenen Mantra „Leistung muss sich wieder lohnen“ oder „Arbeitnehmer müssen mehr verdienen als Leistungsempfänger“ (man ist versucht, hinzuzufügen: „und sei es auf Kosten der Menschenwürde Hilfsbedürftiger“) schiebt das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vor. Zum einen stellt es der neoliberalen Lesart hier ganz deutlich die verfassungsmäßig garantierten Grundrechte entgegen. Zum anderen misst es den Gesetzgeber am Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes.
Der Gesetzgeber hat aber die wertende Entscheidung, welche Ausgaben zum Existenzminimum zählen, sachgerecht und vertretbar zu treffen. Kürzungen von Ausgabepositionen in den Abteilungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe bedürfen zu ihrer Rechtfertigung einer empirischen Grundlage. Der Gesetzgeber darf Ausgaben, welche die Referenzgruppe tätigt, nur dann als nicht relevant einstufen, wenn feststeht, dass sie anderweitig gedeckt werden oder zur Sicherung des Existenzminimums nicht notwendig sind. Hinsichtlich der Höhe der Kürzungen ist auch eine Schätzung auf fundierter empirischer Grundlage nicht ausgeschlossen; Schätzungen “ins Blaue hinein” stellen jedoch keine realitätsgerechte Ermittlung dar.Damit ist klar, dass sich das Gericht zwar einer politischen Einmischung enthält, jedenfalls aber verleiht es seiner Unzufriedenheit mit beliebigen Regelungen nach Gutsherrenart deutlichen Ausdruck.
Was nun folgt, kann man selbst bei aller Vorsicht in der Bewertung nur als die brutalstmögliche Ohrfeige der Judikative für den Gesetzgeber bezeichnen, die bei der für ein Verfassungsgericht gebotenen Zurückhaltung bei der Stellungnahme zu politischen Sachverhalten möglich ist:
Denn bei einzelnen Ausgabepositionen wurden prozentuale Abschläge für nicht regelleistungsrelevante Güter und Dienstleistungen (zum Beispiel Pelze, Maßkleidung und Segelflugzeuge) vorgenommen, ohne dass feststand, ob die Vergleichsgruppe (unterstes Quintil) überhaupt solche Ausgaben getätigt hat.Anders gesagt: Ob einem hilfsbedürftigen Leistungsempfänger ein menschenwürdiges Überleben möglich ist, kann nicht zur Disposition von Faktoren gestellt werden, die keinen Bezug zur Bedürftikkeitssituation haben. Und: Segelflugzeuge leisten sich Hartz-IV Empfänger ebenso wie teure Pelze in der Regel eher nicht.
Zudem stellt die Hochrechnung der für 1998 ermittelten Beträge auf das Jahr 2005 anhand der Entwicklung des aktuellen Rentenwerts einen sachwidrigen Maßstabswechsel dar. Während die statistische Ermittlungsmethode auf Nettoeinkommen, Verbraucherverhalten und Lebenshaltungskosten abstellt, knüpft die Fortschreibung nach dem aktuellen Rentenwert an die Entwicklung der Bruttolöhne und -gehälter, den Beitragssatz zur allgemeinen Rentenversicherung und an einen Nachhaltigkeitsfaktor an. Diese Faktoren weisen aber keinen Bezug zum Existenzminimum auf.
Weiterhin erfolgten Abschläge unter anderem in der Abteilung 03 (Bekleidung und Schuhe) zum Beispiel für Pelze und Maßkleidung, in der Abteilung 04 (Wohnung etc.) bei der Ausgabenposition “Strom”, in der Abteilung 07 (Verkehr) wegen der Kosten für Kraftfahrzeuge und in der Abteilung 09 (Freizeit, Unterhaltung und Kultur) zum Beispiel für Segelflugzeuge.
Eine wesentlich präzisere Herleitung wird im Urteilstext insbesondere auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in Zusammenhang mit Bildungsausgaben vorgenommen. Erst die Verfassungsrichter, scheint es, sind anders als eine eutrophierte Politikelite in der Lage, die Brisanz zu erkennen, wenn hier Bildungschancen vergeben werden.
Insbesondere blieben die notwendigen Aufwendungen für Schulbücher, Schulhefte, Taschenrechner etc. unberücksichtigt, die zum existentiellen Bedarf eines Kindes gehören. Denn ohne Deckung dieser Kosten droht hilfebedürftigen Kindern der Ausschluss von Lebenschancen.Das Bundesverfassungsgericht gibt daher dem Gesetzgeber auf, diesbezüglich nachvollziehbare Regelungen zu treffen. Es äußert sich nicht in besonders deutlicher Weise zur Höhe der festzusetzenden Leistungen, entzieht aber einer beliebigen Festlegung aus politischen Opportunitätserwärungen heraus den Boden. Darin liegt die über den Fall hinaus wirkende, politische Brisanz des Urteils. Es setzt der Beliebigkeit im Umgang mit Leistungsempfängern nach Gutsherrenart und heißen politischen Sprechblasen endlich mit der so dringenden Klarheit Stopmarken.
Eine annotierte Fassung des Urteilstexts ist hier verfügbar: http://drop.io/hartz_iv/asset/bverfgu-pdf
Quelle: http://www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg10-005.html
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