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Menschenrecht als Grundlage

Die Arbeit an diesem Blog bezieht sich auf menschenrechtliche Grundlagen.

-Art. 5 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (Meinungsfreiheit)
-Art. 5 Abs. 1 S. 2 Grundgesetz (Informationsfreiheit)
-Art. 5 Abs. 1 S. 3 Grundgesetz (Pressefreiheit)
-Art. 5 Abs. 1 S. 4 Grundgesetz (Zensurverbot)
-Art. 19 Allgem. Erkl. der Menschenrechte sowie Art. 19 Uno-Zivilpakt (Meinungs- und Informationsfreiheit auch Staatsgrenzen überschreitend)
-Art. 1 von Uno-Resolution 53/144 (schützt das Recht, sich für die Menschenrechte zu engagieren)

Trotzdem sehe ich mich dazu gezwungen, gewisse Kommentare zu überprüfen, und gegebenenfalls nicht zu veröffentlichen. Es sind dies jene, die sich in rassistischer Weise gegen andere Menschen richten - gewalttätige Inhalte enthalten - Beschimpfungen, etc. Derlei Inhalte kann ich nicht damit vereinbaren, dass sich dieses blog für Menschenrechte einsetzt - und zwar ausnahmslos für alle Menschen.

Mein Blog ist ab 18 Jahren, denn ab da kann man voraussetzen, dass der Mensch denkt...

...und ausserdem nicht mehr mit den Umtrieben der Ministerin von der Leyen gegen Websiten in Schwierigkeiten kommt, wenn er einen blog lesen will.

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Sonntag, 27. Juni 2010

Bachmann-Preis

Literaturtage - ja, so etwas gibt es auch noch. In Klagenfurt war mal wieder der Wettbewerb schreibender Menschen. Dieses Jahr hat einer gewonnen, der kein Germanistik Studium aufweisen kann. Kunst studieren, das hat er irgendwann einmal probiert, und dann abgebrochen.  In den verschiedensten Berufen arbeitete er, Totengräber, Stegreifpoet, Tischler, Performance...

Er hat sich durchgeschlagen und geschrieben, sich beworben, und wurde nun Gewinner des Bachmann-Preises. Seine Geschichte über seine Kindheit, in der er von den Eltern in der DDR in einem Kinderheim abgegeben worden war, entschied den Wettbewerb zu seinen Gunsten.

Peter Wawarzinek - eigentlich geboren als Peter Runkel im Jahre 1954 in Rostock - lebt heute in Berlin.

Hier seine Geschichte:

http://bachmannpreis.eu/de/texte/2633



 Ich finde dich /

 Rabenliebe 

 

Peter Wawerzinek

Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten als mir lieb ist.

SCHNEE IST DAS ERSTE, woran ich mich erinnere. Verschneiet liegt rings die ganze Welt, ich hab nichts, was mich freuet, verlassen steht der Baum im Feld, hat längst sein Laub verstreuet, der Wind nur geht bei stiller Nacht, und rüttelt an dem Baume, da rührt er seinen Wipfel sacht und redet wie im Traume. Es schneit sanft in den Ort hinein. Danach gewinnt der Schneefall an Stärke. Es ist so oft Winter in meinem Kopf. Es schneit so häufig, dass ich denke, in meinen Kinderheimjahren hat es nur Schnee, Winter und Eiseskälte gegeben. Ich sehe mich eingemummelt. Frost und Rotz klebt an der Nase. Ich bin das ewige Winterkind unter Winterkindern beim täglichen Schneemannbauen. Es ist November. Ich sitze in einem großräumigen Automobil, einer schwarzen Limousine. Ich bin vier Jahre jung und in dem riesigen Automobil. Schneeweiß ist die Landschaft, die ich in Erinnerung habe. Der Fahrer ist ein dunkler Schattenriss. Ein mit Schneefall versehener Tag ist der Tag, den ich als ersten Tag meines Lebens erinnere. Ein tiefgrauer Tag, der morgens rötlich aufzieht und schön zu werden scheint. Ein verdunkelter, mit Wolken bedeckter Tag, der sich hinter einer Wolkendecke verkriecht, sich den Tag über als Tag nicht sehen lassen mag, dem Schnee das Terrain überlässt, der aus diesem grauen Himmel wie aus einer alten Pferdedecke geklopfter Staub umherwirbelt. Wie der Hase bei seinem Lauf über den Acker den Igeln nicht davonlaufen kann, ruft der Schnee mir zu: bin schon da. Ach bittrer Winter, wie bist du kalt, hast entlaubet den grünen Wald, hast verblüht die Blümlein, die bunten Blümlein sind worden fahl, entflogen ist uns die Nachtigall, entflogen, wird je sie wieder singen.

In der vergangenen Woche starb in Schwerin die fünf Jahre alte Lea-Sophie. Ihre Eltern hatten sie verhungern lassen. Eine Woche vor ihrem Tod hatte der zuständige Sozialarbeiter nicht darauf bestanden, das Kind zu sehen. Gegen das Jugendamt laufen Anzeigen wegen unterlassener Hilfeleistung.

ICH BEFINDE MICH auf dem Weg zu einem Kinderheim. Ich habe keine Ahnung, wohin es mit mir geht, weiß nicht, was mich am Ende der Fahrt erwartet. Ich sitze in einer Limousine. Frühe herrscht. Nebel steht in der Landschaft. Im Nebel wird der ruhende Ackerstein durchsichtig. Im Nebel erscheinen all die Dinge in der Natur wie in eine Kristallschale hineingelegt. Im Nebel wird das Leichte gewichtiger als ein Planet an Masse in die weltliche Waagschale wirft. Das Unscheinbare ist erst in all seiner nebulösen Unklarheit innig zu erleben. Der an einem gewöhnlichen Tag ignorierte, große, stumme, unscheinbar am Wegrand schlafende Ackerstein, seht doch genauer hin, er tritt wacher aus dem Nebel hervor, gewinnt an Würde. Im Nebel ruhet noch die Welt, noch träumen Wald und Wiesen: Bald siehst du, wenn der Schleier fällt, den blauen Himmel unverstellt, herbstkräftig die gedämpfte Welt, im kalten Golde fließen. Leben ist Nebel und Nebel ist Leben. Rückwärts wie vorwärts gelesen mögen die zwei Worte Nebeleben und Lebenebel in Gold gefasst auf meinem Grabstein stehen. Nebel weiß ich um mich, der es gut mit mir meint.

DAS FELD LIEGT wie ein Nachthemd aus. Mir ist als hörte ich eine Krähe rufen. Ich verehre seither Krähen. Ich bewahre mir von diesem ersten, mir bewusst werdenden Tag an, unteilbare Hochachtung vor Krähen und Nebelschwaden. Ich rede von Nebel und Krähen, wenn von Leichtigkeit und Erdschwere die Rede ist, vom Verschwinden der Dinge in den Nebel hinein. Das Wundersame ist im Nebel zugleich von seinem inneren Geheimnis befreit, keine Alltäglichkeit mehr. Am schönsten ist mir im Nebel, wenn Krähen schreien, die nicht zu sehen sind und im Nebel gar nie nach wem rufen. Nebelkrähen sah ich. Nebelkrähen sollen also bis an mein Lebensende meine Schicksalsvögel bleiben. Nebelkrähen begleiten mich durchs Leben. Ich werde im Nebel befruchtet, durch Nebel gezeugt. Nebelschwaden sind die Fruchtblase, in der ich geworden bin. Im Nebel weiß ich den Vater geborgen, von dem niemand weiß. Im Nebel weiß ich die Mutter hinterlegt, die vergessen hat, wer ich bin. Ein aus dem Nebel gekrochener, nicht aus dem Gebärtrakt der Mutter gepresster Erdenbürger bin ich.

Im März dieses Jahres wurde im hessischen Bromskirchen der Hungertod der vierzehn Monate alten Jacqueline bekannt. Das Mädchen wog mit sechs Kilo nur noch halb so viel wie andere Kinder in ihrem Alter. Das Kind hatte seit Monaten keinen Arzt gesehen.

ES IST SPÄTER HERBST. September. Oktober. November. Es kann Januar, Februar, Juni, Juli, August sein. Es schneit nur in der Erinnerung so mütterlich sanft. Wir schreiben das Jahr 1954. Ich bin geboren. Der Krieg ist neun Jahre vorbei. Der Krieg ist nie vorbei, sagt der Verstand. Der Schutt ist großteils beiseite geschafft worden. Hinterm Dorf, hinter der Stadt, hinter den Metropolen, wo Kuhlen ausgehoben werden konnten, liegt der Schutt zu Bergen aufgeschüttet. Berge, die zum Landschaftsbild dazugehören. Wie all die Kriege, die in der Welt geführt werden, ununterbrochen, seit ich in diese Welt hineingeraten bin. Warschauer Pakt. Nationale Volksarmee. Aus Einheiten bestehender Bauch meiner Mutter, ich in ihm kaserniert. Berufswunsch: Volkspolizist. Im Bauch der Sowjetunion, die meiner Mutter weitreichende Souveränitätsrechte gewährt. Von der Mutter Richtung Westen verlassen, im Kleinkinderheim verblieben, auf den zwanzigsten Parteitag der KPdSU zu.
Der Wagen heißt Tschaika wie Seemöwe. Viertürig oder fünftürig. Ich kann es nicht mehr sagen. Hat an die zweihundert Pferdestärken unter der Haube, prahlt stolz ihr Fahrzeuglenker. Höchstgeschwindigkeit hundertsechzig Kilometer die Stunde, die ist er auf einem Fluggelände voll ausgefahren. Ein Gefühl kann er sagen, sagt der Kraftfahrer und knutscht sich im Spiegelbild, dass es laut schmatzt. Durchs ganze Land würde er mich am liebsten chauffieren, abheben, aufsteigen, die überall-Ruh` der Wipfeln stören, den Krähen es zeigen, ihnen den Fliegermarsch blasen: Kerzengrad steig ich zum Himmel, flieg zur Sonn direkt, unter mir auf das Gewimmel, pfeif ich mit Respekt. Hipp, hipp, Hurra.
Frage: Stimmt es, dass der Stachanow-Arbeiter Iwan Iwanowitsch Iwanow auf der Allunionsaustellung in Moskau ein Automobil der Luxusklasse Seemöwe gewonnen hat? Antwort: Im Prinzip ja aber, es handelte sich nicht um den Stachanow-Arbeiter Iwan Iwanowitsch Iwanow, sondern um den Alkoholiker Pjotr Pjotorwitsch Petruschkin und der hat kein Automobil der Luxusklasse Seemöwe gewonnen, sondern ein Fahrrad gestohlen.
Aus dem Schneefall hervor klatscht Schnee gegen die Scheiben. Novemberschnee, Novemberschnee, jubelt das Kind, das im vierten Jahr seines Lebens partout nicht redet, in sich gekehrt erscheint und alles versteht, jedes Wort aufnimmt, und eines auch weiß, dass nämlich der neugierige Schnee mitgehört hat, nunmehr das in sich hinein stummende Kind, die muttervaterlose Waise ansehen will und herzlich begrüßen.
Es schneit ins Wageninnere meiner Kindheitslimousine hinein. Schnee fällt innen wie außen. Mein Leben kennt keine andere Jahreszeit als den Winter. Das Jahr hindurch herrschten Vorwinter, Winter, Nachwinter. Die Jahre stehen wie Schneemänner in Reihe mit nichts angekleidet als löchrigen Töpfen auf ihren Köpfen und Rüben, wo sonst Nasen im Gesicht stecken. Und ewig ist da Nebel um mich herum. Nebelschneejahre. Schneenebeltage geben mir Statur. Ich richte mich an Hirngespinsten auf. Mir ist keine Tür zu einer Limousine von einem Chauffeur aufgetan worden. Viele Türen blieben dem Ankömmling verschlossen, dem Kind verboten. Ich sehe mich an die Hand genommen, in hinteren Winkeln; in Räumen ohne Glanz. Alltag und Rhythmus. Sammeln und Hände fassen. Anmarschieren, abmarschieren, stehen, auf der Stelle treten, links um, rechts um, drei Schritte vor, zwei zur Seite, Hände von einander lösen, hinterm Stuhl die Lehne mit beiden Händen fassen, aufhören zu sprechen, nicht grinsen, ruhig zum Stuhl gehen, nicht laufen, auf seinem Stuhl Platz nehmen, nach vorne sehen, auf den eigenen Teller blicken, den Löffel erst benutzen und anfangen mit dem Essen, wenn es gesagt wird. Alles auf dem Teller Befindliche schön brav aufessen. Sitzenbleiben, bis der Letzte mit seinem Essen fertig ist. Formeln des Dankes sagen. Antreten, abtreten, aufs Zimmer gehen, mit dem Bettenmachen fertig werden, auf Kommando einschlafen, nach dem Erwachen zur Toilette gehen. Nicht alle zugleich an einem Waschbecken stehen. Zurück und Haare kämmen. In drei Minuten auf dem Flur sein.
Um zu wissen, was mit mir war, gehe ich durch hermetische Barrieren in gesicherte Strukturen, mir meiner Erinnerungen sicher zu werden, Beleg zu erlangen, wo nicht die Spur von Gold an den verbotenen Räumen nachweisbar ist und es an Zuneigung mangelt, Zuneigung nicht gibt und auch sonst keinen Freiraum die Jahrzehnte lang bis in die heutige Zeit hinein. Du bleibst vor Erinnerungspforten, vor verschlossenen Türen, vor Toren von Unmöglichkeit, weil der Alltag Trott und Vorschrift war. Du hast funktioniert, in den angesagten Freizeiten in Gruppe Bastelarbeiten absolviert, solange war dein Heim ein Kuvert mit einem glatten Siegellack versehen. Solange war dir nicht nach Arrest.
Sich der Zeit zu erinnern meint, auf mit Verschwiegenheit ausgelegte Gehwegplatten geraten, die Jahre der Isolation überwinden, schreibend die nicht überwundenen Tore, Pforten, Schranken und Türen endlich aufzutun und einzutreten in die wahre Identität. Tritt ein in den Dom, durch das herrliche Portal, tritt ein, alle verrückte Tage einmal, tritt ein, in deinen staubigen Schuhn, oh tritt ein, ein paar Minuten zu ruhen, tritt ein in den Dom, kleiner Mensch, tritt ein, hier umfängt dich die Stille, jede Pupille wird weiter, riesig wird jede Pupille und erstrahlt in den Farben der Fenster. Weiter wird jede Brust, hier atmet man Größe, Größe atmet man hier. Und ein Chor singt: das Heim haben Menschen errichtet, a, a, den Schritten das Schreiten zu lehren, die Größe des Menschen zu ehren.

Celestine erträgt Handwerkermärkte nur schwer. Als die zwölfjährige Berlinerin vor ein paar Monaten in einem Bauhaus war, sah sie in den langen Regalen ein silberfarbenes Klebeband liegen - und musste das Gebäude sofort verlassen. Das Klebeband erinnerte sie an ihr Martyrium, das sie einst mit knapper Not überlebt hat. Weil sie so laut war, hatten ihre Eltern ihr wochenlang, vielleicht länger, mit einem solchen Tape den Mund zugeklebt. Es blieb nur ein kleines Loch, damit sie noch atmen konnte.

DIE VERNUNFT VERDAMMT das von mir erinnerte Bild im großen Luxuswagen vorgefahren worden zu sein als Einbildung. Dreizehn Jahre nach dem zweiten Weltkrieg wird kein vierjähriger Schutzbefohlener in luxuriöser Würde von einem Kleinkindkinderheim ins nächste Vorschulkinderheim chauffiert. Ich aber will mir die Einbildung nicht aus dem Kopf schlagen. Ich will nicht als die schweigende Waise auf einem knatternden Motorrad hinter diesem Ledermantelmann geklemmt ins Kinderheim gebracht worden sein. Ich bin auf keinem Krad herangekarrt worden. Ich fahre Limousine. Ich bin ein Waise. Das Motorrad ist durch die Limousine ersetzt. Die Erinnerung übermalt. Bockig widersetze ich mich der Vernunft. Bockig bestehe ich auf die mit sechs oder dreizehn Seitentüren versehene Kabrio-Limousine unter meinetwegen einem automatischen Verdeck, das sich nach Herzenslust schließen und öffnen lässt, auch wenn man im Zusammenhang mit der in der Sowjetunion gebauten fahrenden Seemöwe nichts von einem Schiebedach weiß. Wann immer ich Lust darauf verspüre, stehe ich auf dem Hintersitz. Wann immer ich will, schiebe ich das Dach auf und zu, dass der liebe Schnee zu mir findet und flockt, mit mir auf dem Hintersitz tollen kann. Ich rücke mit meinen Erinnerungen gegen jedwede innere Vernunft vor. Wunschdenken verhilft mir als vierjährigem Jungen zu Beginn meiner Erinnerungsreise gegen alle Vernunft in die eingebildete Limousine. Ich mag nicht mit einem Sammeltransporter, in keinem Kranken- oder Viehwagen gekarrt oder in einem gewöhnlichen Überlandbus ins Kinderheim transportiert worden sein.

WENN ICH DER LEIBLICHEN MUTTER etwas verdanke, dann mein intimes Empfinden für Schnee, das ich meine Schneesensibilität nennen möchte. Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter, der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt Trauben, der Winter den Schnee. Ich sitze am Fenster und sehe zum Garten meines ersten Kinderheimes hin, wo seit Tagen Schnee aus allen Wolken herabfällt, wo Schnee auf Schnee liegt und kleine Vögel zu beobachten sind, die im Schnee kein Futter vorfinden, sich um das Vogelhaus herum versammeln, sich von den Sonnenblumenkörnern im Schmalztopf ernähren. Schmalz von mir unter den wachsamen Augen der Köchin mit Namen Frau Blume ausgelassen und in den Blumentopf eingelassen, mit Sonnenkörnchen versehen.
Am Schreibtisch über der Schreibarbeit zerplatzt der Traum von meiner Limousine, wie alle schönen Träume von einem schöneren Dasein der Wahrheit gestundet platzen sollen, rund um unseren Erdball, egal wie oft und wie fest von den Menschen in Hoffnungslosigkeit geträumt.
Ich komme an. Wie eine Ware angeliefert, werde ich vor das Kinderheim gefahren, das ich als Bühne erlebe. Egal von welcher Seite ich mich in meine Anfangsjahre hinein versetze, Schnee fällt und rot wie Blut sind die Backsteinziegel des Hauses.

Der Vorhang öffnet sich zur kleinen Bühne, auf der es zu schneien beginnt. Blutrot ist die Bühne in glänzenden Stoff gehüllt. Als blickte ich in den aufgerissenen Mutterbauch, die Mutterhöhle. Der Ledermantelmann fährt vor. Ich höre den Ton seines Fahrzeuges von hinter der Bühne her. Das Geräusch hat sich über die Jahrzehnte allmählich von dem eines Motorrades zu dem einer Limousine verändert. Eine dreistufige Steintreppe, auf ihr drei Frauen in Weiß stehend, wird von kräftigen Bühnenarbeitern vor die Hausfassade geschoben. Der wuchtige Ledermantelmann, bis zu den Waden in schweres Leder gehüllt, tritt auf und zieht diesen kleinen Jungen hinter sich her, der vier Jahre alt ist, der ich bin. Ich werde vom Ledermantelmann vor das Heim geführt, vor dem ich erst wieder dreiunddreißig Jahre später, nur wenige Monate nach dem Fall der Mauer in Berlin, so neugierig und fassungslos stehe. Ich gehe an der Hand des Ledermantelmannes, der ein Berg ist, dessen Gipfelkopf ich nicht sehe, wie sehr ich mich auch mühe, mir den Hals verrenke. Er zieht mich nach, schleppt mich im Tau, betätigt nicht einmal eine Klingel. Ihm wird die Tür aufgetan, bevor wir auf der Treppe sind.
Der Ledermantelmann wünscht den Frauen einen schönen Tag. Ich will nicht sehen müssen. Ich dränge mich hinter den Ledermantelmann, der ein Etui zückt, in dem sich Tabak und Papier befinden, woraus er sorgsam eine Zigarette dreht. Schneeweiß liegt die Selbstgedrehte in der Hand des Ledermantelmannes. Schneeweiß glüht sie zwischen seinen Fingern, wenn er mit dem Arm gestikuliert. Das alles sehe ich und sehe ich nicht, obwohl ich fast nichts von allem sehe. Josephimonat März, sagt der Mann, stößt Rauch zu seinen Worten aus. Rauch, der in turbulenter Strömung über dem kopflosen Mann in krauser Bewegung aufsteigt, über dem Schulterbuckel instabil wird und im Dunst des Tages verschwindet. An Gregor kommt die Schwalbe über des Meeres Port. An Benedikt sucht sie im Haus ihren Ort. An Bartholomäus ist sie wieder fort. Alte Bauernregeln, sagt der rauchende Mann, sagt, dass man am Neunzehnten des Monats ins Freie treten soll, um den Himmel anzuschauen. Ist er klar, bleibt er es im ganzen Jahr.
Die korpulente Frau nickt: Wenn Sie es sagen. Sie haben sich noch nie geirrt. Der Mann pafft und redet und pafft. Die Zigarette hört nicht auf zu qualmen. Die Erzieherinnen lächeln wohlgefällig. Sie wollen das Kind des Tages in Empfang nehmen. Den lütten Butscher häw ick bi, sagt der Ledermantelmann. Greift hinter sich ins Leere, weil ich mich seinem Greifversuch entziehe, der plumpen Hand ausweiche. Ich kann mich nicht in Luft auflösen. Es gelingt mir nicht, in den Mantel einzusteigen, der aus einem harten, störrischen Material gegossen scheint. Nicht einen Spalt kriege ich zu fassen. Nirgendwo hinein kann ich mich verkriechen.
Nix da mit Verstecken. Frisch hergezeigt, was für ein Prachtkerlchen du bist. Mit der Griffsicherheit des Mannes, der einen zappelnden Dorsch bei dessen Kiemen packt, fasst der Mantelmann mich beim zweiten Versuch hinterrücks, zieht mich hervor, präsentiert den Fang den erstaunten Erzieherinnen, die ihre Hände an die Wangen schlagen, aus einem gemeinsamen Mund rufen: Nicht doch, dieser da, wohl nicht der. Man verabschiedet den rauchenden Mann so rasch es geht. Man führt das Kind in sein neues Reich. Ein wohlriechendes Heim. Das empfindet das Kind augenblicklich. Dünn bin ich. Unglaublich zurückgeblieben, schimpft mich die Heimleiterin. Zurückgeblieben bin ich, denkt der Junge, der ich bin.
Die Kunde, dass dem Haus ein Zurückgebliebener gebracht worden ist, ruft Personal um den Neuankömmling herum, der im Mittelpunkt des unverhohlenen Interesses steht: Ich finde, der Kopf passt nicht zum Rest. Gott, schaut euch nur die Füße an. Was für dünne Ärmchen der hat. Ich finde seine Ohren schön. Schaut! Die Rippen erst. Die Erzieherinnen stehen mit schief zur Seite gelegten Köpfen vor mir. Sie blicken von ihren zur Seite gelegten Köpfen aus an mir herunter, herauf. Sie heben mich an. Wie leicht er ist. Wie eine Feder; man spürt kaum was auf seinem Arm.
Der Kopf auf meinem Hals ist deutlich zu groß. Der Körper zum Kopf ist spindelmickrig und dürr. Sie nennen mich Spinne. Sie rufen mich der dünnen Ärmchen, Beine wegen Wagenknecht, Gottesanbeter. Ich werde in die Wanne gestellt, mit harter Bürste geschrubbt. Mir werden die Ohren durchgepustet. Ich bekomme die Haare geschnitten, die Fingernägel gestutzt. Der Doktor kommt. Sie streichen mir liebevoll das Haar. Sie wollen mir die Angst vor dem Doktor nehmen, der einen schneeweißen Unschuldskittel trägt. Andere Kinder schreien, dass der Doktor den Kittel auszieht. Bei mir löst der weiße Kittel keinerlei Angst aus: Du bist wohl Kittel gewohnt?
Sie fassen meinen rechten Arm am Handgelenk. Sie sagen das Wort Mutter. Sie fühlen meinen Puls. Er regt sich nicht, bleibt konstant, wenn sie das Wort Mutter aussprechen. Das Wort Mutter ist ein meine Person nicht erregender Begriff. Das Wort fliegt durch meinen Kopf hindurch wie ein Pfeil durch eine leere Halle. Mit den Worten Wiese, Strand, Ball, Haus weiß ich mehr anzufangen. Wiese ist Spiel und Bienengesumm, im Freien essen.
Die Liste fälliger Reparaturen ist lang. Ich stehe nackt vor dem Doktor. Der Doktor fordert mir ab, kräftig durchzuatmen, die Luft in meiner Lunge zu stauen. Der Doktor betastet mich von Halswirbel zu Halswirbel, die Wirbelsäule entlang bis zu den Pobacken, mit spitzen Fingern die Innenschenkel entlang. Er prüft meine Waden, Knöchel, drückt mir in den Bauch, sucht mit den Fingerkuppen hinter meine Rippen zu kommen, presst seinen Fingerballen in meine beiden Schlüsselbeinkuhlen. Ich habe meine Zehen zu spreizen. Ich lasse mir den Kopf verbiegen, den Hals dehnen, stehe gerade, krumm, höre meine Gelenke knacken, bin Prozeduren gewöhnt, jammere nicht, tue wie mir empfohlen, schaue am Doktor vorbei, blicke den Frauen von oben herab auf ihre Blusen, Broschen, Finger, Hände, Röcke, Gürtel, Falten, Hüften, Stümpfe, Haar- oder Schuhspitzen. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle den Kopf. Tut das weh? Ich schüttle zu allen Fragen den Kopf. Ich sehe den Doktor bedenklich gucken, sich jäh abwenden. Er redet im leisen Ton. Die Erzieherinnen mustern mich, blicken den Doktor an, ehe sie gleichzeitig nicken. Eine Erzieherin schnäuzt in ihr Taschentuch und geht. Der Doktor bespricht die Befunde und gibt Taktiken vor. Drei Jahre heißt es, wird es dauern. Die Zeit ist bald um. Aus dem Zurückgebliebenen muss ein Nichtzurückgebliebener geformt sein, ehe ich ins Schulheim darf. Die Heimleiterin kommt hinzu: Reden magst du nicht? Nun gut. Mit niemandem? Ich bin die Bani. Darfst Bani zu mir sagen. Ziehst vor, zu schweigen? Ist manchmal besser, schweigsam sein. Der Fisch dort im Aquarium, hör nur, redet auch nicht viel.

Als Artikulationsorgane oder Sprechwerkzeuge bezeichnet man Körperteile, die für die Erzeugung von Sprache in Einsatz gebracht werden. Die Nase. Der Gaumen. Die Zunge. Der Rachen (Pharynx). Der Kehldeckel (Epiglottis). Der Kehlkopf (Larynx) mit den Stimmfalten oder Stimmbändern. Die Luftröhre (Trachea). Die Lunge und das Zwerchfell. Ihre Anordnung im menschlichen Körper ist von Bedeutung. Würde der Kehlkopf eines Hundes die Position wie die des Menschen einnehmen, so könnte der Hund ähnliche Laute produzieren. Laute sind Schallwellen. Um Schallwellen zu produzieren, setzt die Lunge einen Luftstrom in Bewegung. Laute werden produziert, indem Luft von der Lunge durch den Kehlkopf in den oberen Artikulationstrakt (Mund, Nase, Rachen) gedrückt wird. Man nennt diesen Luftstrom egressiv. Der egressive Luftstrom wird in Schwingungen versetzt. Die Schwingungen entstehen im Kehlkopf. Knorpel lenkt die Schwingungen der Stimmbänder. Den Freiraum zwischen den Stimmbändern nennt man Stimmritze (Glottis). Stimmbänder und Stimmritze werden Stimmbildung, Tonhöhe und Lautstärke. Stimmhafte Laute, Vokale und Konsonanten wie [m], [b], [d], entstehen, wenn die Stimmritze zu einem Spalt verengt ist und die Stimmbänder schwingen. Mit Ausnahme von [n], [m] und [ŋ] sind alle Konsonanten und Vokale im Deutschen Orallaute. Der weiche Gaumen wird gesenkt. Die Luft will nun durch Mund und Nase entweichen. Es werden nasalisierte Vokale erzeugt. Der weiche Gaumen wird gesenkt. Der Mund ist geschlossen. Die Luft fließt durch die Nase. Es werden nasale Konsonanten [n] und [m] gebildet. Die Lippen legen sich aufeinander, [m] und [p] können manipuliert werden. Die Lippen klaffen weit, [u] und [o] die Worte Uhr und Ort entstehen. Der Unterkiefer dirigiert die Lippen. Die Zunge ist ein beweglicher Artikulator. Man kann die Zunge nach vorne schieben und nach oben drücken, für das [i] wird die Zunge nach hinten gestaucht für das [u] leicht angehoben, nach hinten und unten drückt der Mensch die Zunge, will er [a] sagen. Charakteristisches Symptom des Wohlbefindens bei Säuglingen ist das Lallen. Das Kind lallt aus einem spielerischen Selbstzweck heraus. Die endlose Wiederholung einzelner Silben, deren freie Modulation schaffen großartige Lallmonologe, die sich auf die Artikulationsorgane auswirken, sie trainieren, schleifen. Das Kind ist sein eigener Sprachpädagoge.

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