Erdrückende Beweislast
Montag, 8. Februar 2010
"Dann wollen wir mal", nuschelte der Vermittler dem verkrampften und bangen Kunden zu, "setzen Sie sich! Ich habe hier eine Beschwerde vorliegen. Sie sind, so heißt es hier, am Achten dieses Monats, also vor etwas mehr als zwei Wochen, nicht im Schulungszentrum erschienen. Dies, obwohl Sie angeschrieben wurden, dort bitteschön am erwähnten Tag zu erscheinen. Möchten Sie sich dazu äußern?"
Der Verhörte griente blöde, lächelte dann versöhnlich, als wolle er mit seinem Befrager zur Brüderschaft schreiten, fragte nach erfolgloser Fraternisierung, ob es sich um jenen Achten des Monats handle, an dem das Schulungszentrum, dieser vermoderte und morsche Kasten, unter seinem Eigengewicht eingestürzt sei, unter sich mehrere hundert Menschen begrabend.
"Das steht hier gar nicht zur Diskussion!", schallte die Antwort unwirsch durch den ärmlichen Raum. Natürlich könne es sich um diesen unheilvollen Tag für diese, für unsere Stadt handeln. Es sei aber nicht wesentlich. "Wir betrauern hier heute nicht die Toten, wir kümmern uns heute nur um Ihre Angelegenheit. Sie waren also abwesend. Man hat die Anwesenheitsliste zwischen Schutt und Holztrümmern gefunden, gleich seitlich eines Torsos, vermutlich der des Bewerbungscoaches. Alle Namen waren eingetragen, Ihr Name aber fehlt. Wollen Sie sich erklären?"
Was, so die rhetorische Gegenfrage, wenn er auf Übersinnliches plädiere. Würde man einer solchen Erklärung Glauben schenken. Er schäme sich gehörig für die folgende Antwort, erklärte der Verhörte, man würde ja schnell zum Spinner abgestempelt. Aber dennoch, in Anbetracht der Umstände, müßte er ehrlich sein. In der Nacht vom Siebten auf den Achten, da plagte ihn ein langer, schweißdurchtränkender Alptraum. Im Wust aus Beton und Holz sah er sich, Arme und Beine zerschmettert, letzte Atemzüge tätigend. Vorahnung sei es gewesen, worauf er sicherheitshalber fernblieb. Als er dann gegen zehn Uhr aus dem Radio vernahm, dass das Zentrum seit einigen Minuten nicht mehr war, da fühlte er sich ausreichend bestätigt und glaubte, sich ob seines Fernbleibens gar nicht mehr rechtfertigen zu müssen.
"In der Rechtsfolgebelehrung", legte der Vermittler unbeeindruckt dar, "in der Rechtsfolgebelehrung, heißt es ausdrücklich, dass bei Fernbleiben ein wichtiger Grund angegeben werden muß. Vorahnung, glaube ich, zählt nicht dazu. Sie wissen, dass Sie dafür belangt werden können, nehme ich an. Sanktion und anteilige Kostenerstattung des versäumten Kurses wird veranlasst. Ein Bescheid wird Ihnen diesbezüglich zugehen."
Wäre er dort erschienen, führte der gestellte Täter aus, hätte er heute hier nicht erscheinen können. Oder doch, er hätte auch dann erscheinen können - als Geist nämlich. Ob man das schon berücksichtigt hätte. Man würde ihn hier bestrafen, weil er noch lebe. Wäre er nun verschüttet, so wie die Damen und Herren, die heute, nach mehr als zwei Wochen, immer noch unter Tage lägen, gärend und verwesend, so dürfte er reinen Gewissens sein. Rechtschaffen hätte er sich lediglich benommen, wenn er sich hätte verschütten lassen. Indem er aber noch lebe, habe er seinen Verstoß begründet.
"Wie erläutert, darum geht es heute gar nicht. Wir wünschen Ihnen nicht den Tod. Aber das ist hier nicht das Thema." Dieses sei nämlich eindeutig, fuhr er fort. Der Hilfebedürftige nach Sozialgesetzbuch soundso, sei einem Bescheid nebst Rechtsfolgebelehrung nicht nachgekommen und habe damit gegen Paragraphen werweißwie verstoßen. "Als Mensch bin ich erleichtert, dass Sie damals dort nicht erschienen sind - als Angestellter der Kommune, das sehen Sie doch sicherlich ein, darf ich nicht erleichtert sein. Es hat mir von Berufswegen gleichgültig zu sein, ob sie überlebt haben oder nicht. Was zählt ist der Tatbestand, der rein dienstlich betrachtet, erdrückend ist."
Stumm blickte der überlebende Rechtsbrecher hinüber, starrte seinem Vermittler, seinem Herrn über Leben und Tod, ins Gesicht. Nicht kess, nicht unbefangen, eher fassungslos, an der Schwelle zur Fassungslosigkeit. Seine Lippen setzten an, wollten Worte formen, wollten sich entrüsten, schelten, nach dem Grad der Hirnerweichung fragen. Zu spät, schon setzte der andere seine Ausführungen fort.
"Trösten Sie sich. Ob nun hellseherische Vorahnung oder irgendein irdisches Motiv, Sie hätten sich kaum herausreden können. Sie waren, ich formuliere das mal so frei, so ungezwungen, Sie waren von Anbeginn Ihres Erscheinens verurteilt. Ja, wenn Sie damals dort erschienen wären, wenn Sie der Aufforderung Folge geleistet hätten, dann sähe die Sache heute hier anders aus. Dann wären Sie gar nicht hier..."
Genau!, er wäre gar nicht mehr hier, fiel er dem Monolog ins Konzept. Er läge einige hundert Meter von hier, unter Brocken, das Gehirn aus dem Schädel baumelnd, womöglich, mit zerbröselten Armen und Beinen. Zwar könne er verstehen, wenn man ihm nun nachsage, er sei pflichtvergessen gewesen. Nur sollte man doch menschlich, auf dem Boden der Nächstenliebe bleiben, diesen Verstoß unter den Teppich kehren, weil er sich letztlich als erfreulicher Verstoß herausgestellt habe.
"Wichtiger Grund!", schrie der Inquisitor bereits übellauniger, "wichtiger Grund! Solche gibt es einige, solche sind festgelegt, auch wenn es zugegeben einen Handlungsspielraum gibt. Nachweisbare Krankheit beispielsweise. Oder ein Wegeunfall, sofern dokumentiert und belegbar. Vom eigenen Überleben, basierend auf Alpträumen, als wichtigen Grund, ist nirgends die Rede. Sie leben, das ist erfreulich - es ist aber nicht erfreulich, dass Sie Ihren Pflichten nicht nachgekommen sind. Natürlich muß man davon ausgehen, dass Sie heute nicht mehr unter den Lebenden wären, wenn Sie Ihre Pflicht nicht verschwitzt hätten, so wie es ja eigentlich sein sollte. Aber das ist und das darf kein Maßstab für die verwaltungstechnische Abwicklung gesellschaftlicher Fragen sein."
Zwar wisse er, erwiderte der Vorgeführte, dass hier kein Basar sei, nicht verhandelt werden könne, aber er möchte doch wenigstens bitten, dass ihm nur die Sanktion auferlegt, von den Schadensersatzansprüchen jedoch Abstand genommen wird. Immerhin, so argumentierte er, hätte der ganze Kurs nach knapp zwei Stunden ein jähes Ende gefunden, selbst wenn er damals erschienen wäre. Der Kurs wäre ja so oder so nicht beendet worden.
Er verstünde, worauf er hinauswolle, gab der Gegenüber zur Antwort, er könne dem Dargelegten folgen. "Sehen Sie, es ist auch festgelegt, wann Schadensersatz einzufordern ist und wann nicht. Prophezeiungen gehören eindeutig nicht auf die entlastende Seite. Für uns zählt auch hier nicht das Resultat, für uns zählen die einzelnen Fakten, die zur Sanktion führen. Ein erteilter Verwaltungsakt fragt nicht danach, ob sein Inhalt, sein Begehr positive Folgen zeitigen wird oder nicht, ob also Ihr Fernbleiben in diesem Falle, für Sie ein gutes Ende genommen hat oder eben nicht. Wir haben bezüglich Schadensersatz stramm am Gesetz zu entscheiden. Sie sollten das auch mal andersherum sehen, mit dem Augenpaar des Pflichtbewussten gewissermaßen. Träumte es mir, mir würde mein Büro über den Kopf zusammenkrachen, würde ich daraufhin aufwachen und todsicher wissen, dass mein Traum Wirklichkeit würde - ich würde dennoch am nächsten Morgen erscheinen und meinem Dienst nachgehen. Ohne Fakten, schwarz auf weiß, sind Entscheidungen nicht zu treffen." Folgen seien unerheblich - es zähle einzig, die Dinge zu tun, die von einem verlangt werden, schloss er. Außerdem solle er sich glücklich schätzen, weil ihm nicht noch größerer Ärger ereile.
Was damit wohl schon wieder gemeint sei! Verständnislos blickte der Überlebende zum Pflichtenfreund. Fragend stierten seine Augen ins feiste Antlitz des Dienstbeflissenen. Er verstehe nicht, haspelte er; er wolle Auskunft, forderte er.
"Sie sind damals nicht erschienen, obwohl Sie hätten erscheinen sollen. Das haben wir ja nun ausführlich besprochen. Jetzt passen Sie auf! Wenn unsere Behörde das der Staatsanwaltschaft weiterreicht, wird sie sich für Ihren Fall sehr zu interessieren haben. Warum? Ganz einfach. Weil Sie eigentlich tot sein müßten. Ganz offenbar leben Sie aber, wie ich sehen, hören und riechen kann. Die Staansanwaltschaft könnte Ihnen nun unterstellen, dass Sie sich Sozialleistungen erschleichen, die eigentlich einem Toten zugestanden hätten. Das heißt: Sie beziehen Leistungen, die eigentlich nicht mehr geleistet werden müßten, wenn Sie damals ins Schulungszentrum gegangen wären. Anders gesagt, sie betreiben Sozialmißbrauch, weil Sie sich Leistungen erschleichen, die bereits seit etwas mehr als zwei Wochen eingestellt sein könnten - ja sogar müßten. Seien Sie doch froh, dass wir davon absehen, die Staatsanwaltschaft nicht unnötig belasten wollen. Sie wären vorbestraft, wenn es so käme. Sich Sozialleistungen zu erschleichen ist kein Kavaliersdelikt. Sehen Sie, mein Lieber, auch ich bin ab und an pflichtvergessen. Es wäre nämlich meine Pflicht, dem Sozialmißbrauch nachzuschnüffeln und zur Meldung zu bringen. Aber ich bin doch kein Unmensch! Denn wenn Sie schon am Leben bleiben, dann müssen Sie ja auch von was leben."
Benommen von der Bosheit seines Verbrechens, der Schäbigkeit seiner lebenserhaltenden Vision, taumelte der Verbrecher von seinem Stuhl. Er wollte nur sein Leben retten, weiteratmen, nur sein dürfen und blieb daher dem Schulungszentrum fern. Weil er überlebte, hat er der Gesellschaft geschadet, sich gegen gesetztes Recht aufgelehnt - erst jetzt wurde ihm die ganze Bandbreite seines Verbrechens gewahr. Und er blickte zum vermittelnden Ermittler, glotzte ihn erst geistesabwesend an, wurde sich saumselig dessen Großzügigkeit bewusst, lächelte ihm dankerfüllt zu, trat hinter dessen Schreibtisch und küsste ihm die Wangen, die Stirn, den Kopf. Danke, immer wieder Danke, flüsterte er erleichtert. Wie schlimm stünde es um mich, stammelte er, wenn Sie Ihrem Diensteifer voll erlegen wären. Ein Mensch sei er trotz allem geblieben, lobte er seinen Widersacher. Ein guter Mensch, ein hilfsbereiter, verständnisvoller Mensch. Er warf die Bürotüre leise ins Schloss, zuvor noch einen Blick auf seinen Retter werfend, sich verabschiedend und nochmals dankend, trat auf den Flur und wähnte sich erleichtert. Gerade nochmal glimpflich verlaufen - es hätte schlimmer kommen können!
Der Verhörte griente blöde, lächelte dann versöhnlich, als wolle er mit seinem Befrager zur Brüderschaft schreiten, fragte nach erfolgloser Fraternisierung, ob es sich um jenen Achten des Monats handle, an dem das Schulungszentrum, dieser vermoderte und morsche Kasten, unter seinem Eigengewicht eingestürzt sei, unter sich mehrere hundert Menschen begrabend.
"Das steht hier gar nicht zur Diskussion!", schallte die Antwort unwirsch durch den ärmlichen Raum. Natürlich könne es sich um diesen unheilvollen Tag für diese, für unsere Stadt handeln. Es sei aber nicht wesentlich. "Wir betrauern hier heute nicht die Toten, wir kümmern uns heute nur um Ihre Angelegenheit. Sie waren also abwesend. Man hat die Anwesenheitsliste zwischen Schutt und Holztrümmern gefunden, gleich seitlich eines Torsos, vermutlich der des Bewerbungscoaches. Alle Namen waren eingetragen, Ihr Name aber fehlt. Wollen Sie sich erklären?"
Was, so die rhetorische Gegenfrage, wenn er auf Übersinnliches plädiere. Würde man einer solchen Erklärung Glauben schenken. Er schäme sich gehörig für die folgende Antwort, erklärte der Verhörte, man würde ja schnell zum Spinner abgestempelt. Aber dennoch, in Anbetracht der Umstände, müßte er ehrlich sein. In der Nacht vom Siebten auf den Achten, da plagte ihn ein langer, schweißdurchtränkender Alptraum. Im Wust aus Beton und Holz sah er sich, Arme und Beine zerschmettert, letzte Atemzüge tätigend. Vorahnung sei es gewesen, worauf er sicherheitshalber fernblieb. Als er dann gegen zehn Uhr aus dem Radio vernahm, dass das Zentrum seit einigen Minuten nicht mehr war, da fühlte er sich ausreichend bestätigt und glaubte, sich ob seines Fernbleibens gar nicht mehr rechtfertigen zu müssen.
"In der Rechtsfolgebelehrung", legte der Vermittler unbeeindruckt dar, "in der Rechtsfolgebelehrung, heißt es ausdrücklich, dass bei Fernbleiben ein wichtiger Grund angegeben werden muß. Vorahnung, glaube ich, zählt nicht dazu. Sie wissen, dass Sie dafür belangt werden können, nehme ich an. Sanktion und anteilige Kostenerstattung des versäumten Kurses wird veranlasst. Ein Bescheid wird Ihnen diesbezüglich zugehen."
Wäre er dort erschienen, führte der gestellte Täter aus, hätte er heute hier nicht erscheinen können. Oder doch, er hätte auch dann erscheinen können - als Geist nämlich. Ob man das schon berücksichtigt hätte. Man würde ihn hier bestrafen, weil er noch lebe. Wäre er nun verschüttet, so wie die Damen und Herren, die heute, nach mehr als zwei Wochen, immer noch unter Tage lägen, gärend und verwesend, so dürfte er reinen Gewissens sein. Rechtschaffen hätte er sich lediglich benommen, wenn er sich hätte verschütten lassen. Indem er aber noch lebe, habe er seinen Verstoß begründet.
"Wie erläutert, darum geht es heute gar nicht. Wir wünschen Ihnen nicht den Tod. Aber das ist hier nicht das Thema." Dieses sei nämlich eindeutig, fuhr er fort. Der Hilfebedürftige nach Sozialgesetzbuch soundso, sei einem Bescheid nebst Rechtsfolgebelehrung nicht nachgekommen und habe damit gegen Paragraphen werweißwie verstoßen. "Als Mensch bin ich erleichtert, dass Sie damals dort nicht erschienen sind - als Angestellter der Kommune, das sehen Sie doch sicherlich ein, darf ich nicht erleichtert sein. Es hat mir von Berufswegen gleichgültig zu sein, ob sie überlebt haben oder nicht. Was zählt ist der Tatbestand, der rein dienstlich betrachtet, erdrückend ist."
Stumm blickte der überlebende Rechtsbrecher hinüber, starrte seinem Vermittler, seinem Herrn über Leben und Tod, ins Gesicht. Nicht kess, nicht unbefangen, eher fassungslos, an der Schwelle zur Fassungslosigkeit. Seine Lippen setzten an, wollten Worte formen, wollten sich entrüsten, schelten, nach dem Grad der Hirnerweichung fragen. Zu spät, schon setzte der andere seine Ausführungen fort.
"Trösten Sie sich. Ob nun hellseherische Vorahnung oder irgendein irdisches Motiv, Sie hätten sich kaum herausreden können. Sie waren, ich formuliere das mal so frei, so ungezwungen, Sie waren von Anbeginn Ihres Erscheinens verurteilt. Ja, wenn Sie damals dort erschienen wären, wenn Sie der Aufforderung Folge geleistet hätten, dann sähe die Sache heute hier anders aus. Dann wären Sie gar nicht hier..."
Genau!, er wäre gar nicht mehr hier, fiel er dem Monolog ins Konzept. Er läge einige hundert Meter von hier, unter Brocken, das Gehirn aus dem Schädel baumelnd, womöglich, mit zerbröselten Armen und Beinen. Zwar könne er verstehen, wenn man ihm nun nachsage, er sei pflichtvergessen gewesen. Nur sollte man doch menschlich, auf dem Boden der Nächstenliebe bleiben, diesen Verstoß unter den Teppich kehren, weil er sich letztlich als erfreulicher Verstoß herausgestellt habe.
"Wichtiger Grund!", schrie der Inquisitor bereits übellauniger, "wichtiger Grund! Solche gibt es einige, solche sind festgelegt, auch wenn es zugegeben einen Handlungsspielraum gibt. Nachweisbare Krankheit beispielsweise. Oder ein Wegeunfall, sofern dokumentiert und belegbar. Vom eigenen Überleben, basierend auf Alpträumen, als wichtigen Grund, ist nirgends die Rede. Sie leben, das ist erfreulich - es ist aber nicht erfreulich, dass Sie Ihren Pflichten nicht nachgekommen sind. Natürlich muß man davon ausgehen, dass Sie heute nicht mehr unter den Lebenden wären, wenn Sie Ihre Pflicht nicht verschwitzt hätten, so wie es ja eigentlich sein sollte. Aber das ist und das darf kein Maßstab für die verwaltungstechnische Abwicklung gesellschaftlicher Fragen sein."
Zwar wisse er, erwiderte der Vorgeführte, dass hier kein Basar sei, nicht verhandelt werden könne, aber er möchte doch wenigstens bitten, dass ihm nur die Sanktion auferlegt, von den Schadensersatzansprüchen jedoch Abstand genommen wird. Immerhin, so argumentierte er, hätte der ganze Kurs nach knapp zwei Stunden ein jähes Ende gefunden, selbst wenn er damals erschienen wäre. Der Kurs wäre ja so oder so nicht beendet worden.
Er verstünde, worauf er hinauswolle, gab der Gegenüber zur Antwort, er könne dem Dargelegten folgen. "Sehen Sie, es ist auch festgelegt, wann Schadensersatz einzufordern ist und wann nicht. Prophezeiungen gehören eindeutig nicht auf die entlastende Seite. Für uns zählt auch hier nicht das Resultat, für uns zählen die einzelnen Fakten, die zur Sanktion führen. Ein erteilter Verwaltungsakt fragt nicht danach, ob sein Inhalt, sein Begehr positive Folgen zeitigen wird oder nicht, ob also Ihr Fernbleiben in diesem Falle, für Sie ein gutes Ende genommen hat oder eben nicht. Wir haben bezüglich Schadensersatz stramm am Gesetz zu entscheiden. Sie sollten das auch mal andersherum sehen, mit dem Augenpaar des Pflichtbewussten gewissermaßen. Träumte es mir, mir würde mein Büro über den Kopf zusammenkrachen, würde ich daraufhin aufwachen und todsicher wissen, dass mein Traum Wirklichkeit würde - ich würde dennoch am nächsten Morgen erscheinen und meinem Dienst nachgehen. Ohne Fakten, schwarz auf weiß, sind Entscheidungen nicht zu treffen." Folgen seien unerheblich - es zähle einzig, die Dinge zu tun, die von einem verlangt werden, schloss er. Außerdem solle er sich glücklich schätzen, weil ihm nicht noch größerer Ärger ereile.
Was damit wohl schon wieder gemeint sei! Verständnislos blickte der Überlebende zum Pflichtenfreund. Fragend stierten seine Augen ins feiste Antlitz des Dienstbeflissenen. Er verstehe nicht, haspelte er; er wolle Auskunft, forderte er.
"Sie sind damals nicht erschienen, obwohl Sie hätten erscheinen sollen. Das haben wir ja nun ausführlich besprochen. Jetzt passen Sie auf! Wenn unsere Behörde das der Staatsanwaltschaft weiterreicht, wird sie sich für Ihren Fall sehr zu interessieren haben. Warum? Ganz einfach. Weil Sie eigentlich tot sein müßten. Ganz offenbar leben Sie aber, wie ich sehen, hören und riechen kann. Die Staansanwaltschaft könnte Ihnen nun unterstellen, dass Sie sich Sozialleistungen erschleichen, die eigentlich einem Toten zugestanden hätten. Das heißt: Sie beziehen Leistungen, die eigentlich nicht mehr geleistet werden müßten, wenn Sie damals ins Schulungszentrum gegangen wären. Anders gesagt, sie betreiben Sozialmißbrauch, weil Sie sich Leistungen erschleichen, die bereits seit etwas mehr als zwei Wochen eingestellt sein könnten - ja sogar müßten. Seien Sie doch froh, dass wir davon absehen, die Staatsanwaltschaft nicht unnötig belasten wollen. Sie wären vorbestraft, wenn es so käme. Sich Sozialleistungen zu erschleichen ist kein Kavaliersdelikt. Sehen Sie, mein Lieber, auch ich bin ab und an pflichtvergessen. Es wäre nämlich meine Pflicht, dem Sozialmißbrauch nachzuschnüffeln und zur Meldung zu bringen. Aber ich bin doch kein Unmensch! Denn wenn Sie schon am Leben bleiben, dann müssen Sie ja auch von was leben."
Benommen von der Bosheit seines Verbrechens, der Schäbigkeit seiner lebenserhaltenden Vision, taumelte der Verbrecher von seinem Stuhl. Er wollte nur sein Leben retten, weiteratmen, nur sein dürfen und blieb daher dem Schulungszentrum fern. Weil er überlebte, hat er der Gesellschaft geschadet, sich gegen gesetztes Recht aufgelehnt - erst jetzt wurde ihm die ganze Bandbreite seines Verbrechens gewahr. Und er blickte zum vermittelnden Ermittler, glotzte ihn erst geistesabwesend an, wurde sich saumselig dessen Großzügigkeit bewusst, lächelte ihm dankerfüllt zu, trat hinter dessen Schreibtisch und küsste ihm die Wangen, die Stirn, den Kopf. Danke, immer wieder Danke, flüsterte er erleichtert. Wie schlimm stünde es um mich, stammelte er, wenn Sie Ihrem Diensteifer voll erlegen wären. Ein Mensch sei er trotz allem geblieben, lobte er seinen Widersacher. Ein guter Mensch, ein hilfsbereiter, verständnisvoller Mensch. Er warf die Bürotüre leise ins Schloss, zuvor noch einen Blick auf seinen Retter werfend, sich verabschiedend und nochmals dankend, trat auf den Flur und wähnte sich erleichtert. Gerade nochmal glimpflich verlaufen - es hätte schlimmer kommen können!
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