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Spätrömische Dekadenz
Von mephi | 8.März 2010Wir seien im Begriff, so mahnt er, in spätrömischer Dekadenz zu versinken.
Das Römische Reich, sein Staats- und Rechtssystem, ist eine wesentliche Quelle unseres heutigen, des bürgerlichen Rechts, und darum darf man von Juristen erwarten, dass sie seine Geschichte recht gut kennen.
Herr Westerwelle ist Jurist, also wiegen seine Worte umso schwerer. Die zitierte Äußerung ist sicher kein „lapsus linguae“.
Ein Vergleich der gesellschaftlichen Zustände im Rom des Nero oder des Clavigula mit unseren heutigen zeigt einen wesentlichen Unterschied:
Das Römische Reich jener Zeit jener Zeit war, wenn auch schon im Zerfall begriffen, immer noch eine Weltmacht von immenser Kraft und Größe. Deutschland war und ist das nicht.
In Bezug auf den Verfall der sozialen, der kulturellen, der moralischen Werte aber können wir durchaus mithalten.
Damals wie heute ist eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft zu beobachten.
Eine kleine Minderheit von Superreichen verfügte über den Löwenanteil aller materiellen Güter, oft nicht einmal wissend, wo die Latifundien lagen, deren Erträge sie in Luxus, in Paläste, in politische Intrigen investierte.
Die Mittelschicht schrumpfte, immer mehr Menschen wurden proletarii, Besitz- und Erwerbslose, und bildeten, besonders in den Städten, eine neue Schicht, die plebs, auf deutsch, den Pöbel.
Diese Masse der Besitz- Erwerbs- und Hoffnungslosen, von den Besitzenden zutiefst verachtet, jedoch zum großen Teil de jure römische Bürger, gaben das antike Stimmvieh ab.
Wer sich ihrer lautstarken und manchmal gewalttätigen Unterstützung zur Durchsetzung seiner politischen Ziel versichern wollte, gab ihnen panem et circenses, Brotgetreide und Zirkusspiele.
Das Ende ist bekannt.
Rom wurde von den „Barbaren“, die es einst verachtet hatte, überrannt. Es ging zugrunde am Verfall seiner kulturellen Werte, der aus einer sich immer mehr verschärfenden Polarisierung der Gesellschaft zwangsläufig folgte.
Die Parallelen zu unserem Gemeinwesen sind so offensichtlich, dass man einen wesentlichen Unterschied betonen muss:
Die antike Produktion basierte wesentlich auf Sklavenarbeit, auf dem Einsatz von völlig rechtlosen Individuen, die eigentlich nicht als Menschen angesehen wurden, sondern als „sprechende Werkzeuge“. Sie durften ihren Wohn- und Arbeitsplatz nicht selbst bestimmen und erhielten keinen Lohn, sondern gerade soviel Naturalien, wie zum Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit nötig war oder der Gnade und Barmherzigkeit ihrer Herren gefiel.
Von solchen Zuständen unterscheiden sich die heutigen noch etwas, aber die Geschäftsleitung ist um Ausgleich bemüht.
Wenn man die ganze Rede und weitere Äußerungen des Herrn Westerwelle zur Kenntnis nimmt, dann sieht man , was er meint mit „Dekadenz“.
Es sind nicht die lange vertuschten und nun bekannt gewordenen mannigfachen Fälle von sexuellem Missbrauch Schutzbefohlener in Klosterschulen und Internaten, die seine Empörung hervorrufen.
Auch das Durchboxen steuerlicher Entlastungen für eine exklusive Klientel, die seiner Partei
- natürlich davon völlig unabhängig – erhebliche Summen „spendet“, verursacht ihm kein Unbehagen.
Nicht einmal die Tatsache, dass in diesem Lande „Einzelgespräche“, also vertrauliche Unterredungen mit politischen Entscheidungsträgern schriftlich – und mit Nennung des Preises – als Handelsware feilgeboten wurden, erregt sein Ärgernis.
Vielmehr meint er anprangern zu müssen, dass Arbeitslose und besonders solche, die diese missliche Lage seit mehr als zwölf Monaten zu ertragen haben, staatliche Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalt bekommen.
Es sei für sie kein Anreiz da, eine Arbeit aufzunehmen, weil sie dadurch nur unwesentlich mehr Einkommen erzielen würden.
Folgt daraus nun die Forderung nach einem Mindestlohn deutlich über dem gesetzlich festgeschriebenen Existenzminimum?
Weit gefehlt!
Nach Meinung von Herrn W. und anderen würde der Mindestlohn „Arbeitsplätze vernichten“.
Arbeitsplätze können nur dann sinnvoll sein, wenn die Menschen, die sie einnehmen, mittels ihrer Arbeit den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien verdienen und durch Steuern und Sozialabgaben ihren Beitrag zum Erhalt der Solidargemeinschaft leisten können.
In trauter Eintracht haben es „Liberale“, „Christdemokraten“, „Sozialdemokraten“ und Toskana – „Grüne“ geschafft, in Deutschland einen Niedrigstlohnsektor zu installieren. Immer mehr Menschen sind gezwungen, trotz Vollzeitarbeit Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, weil der Lohn nicht zum Überleben reicht.
Und schließlich musste das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass die „Regelsätze“, die den Langzeitarbeitslosen zugestanden werden, mit dem Verfassungsgebot der Wahrung der Menschenwürde nicht vereinbar sind.
Dieses Urteil, welches den „Gesetzgeber“, die politischen Entscheidungsträger also, als einen Haufen gewissenloser Stümper disqualifiziert, führt aber nicht etwa zur „geistig – moralischen Wende“.
Vielmehr wird öffentlich darüber spekuliert, wie man eine Senkung der Sozialleistungen daraus ableiten könnte!
In einer beispiellosen Hetzkampagne werden Langzeitarbeitslose als versoffen, verkommen, arbeitscheu, als aozial diffamiert. Mit der gnädigen Einschränkung, man wisse schon, es seien „nicht alle so“.soll dann der Eindruck noch verstärkt werden, das sei jedenfalls typisch.
Folgerichtig wird nun eine „Arbeitspflicht“ für Hartz-IV-Empfänger erwogen. Nicht freie Lohnarbeiter sollen sie aber sein, dann wären sie nicht arbeitslos, sondern unbezahlt, nur mit den minimalen Mitteln zu Aufrechterhaltung ihrer Arbeitsfähigkeit versehen, für „gemeinnützige“ Arbeit einzusetzen.
Wie lange noch, und man wird fordern, sie in eingezäunten Arealen anzusiedeln, über deren Toren wieder steht: „Arbeit macht frei!“
Der Wirtschaft stünden dann endlich Arbeitskräfte zur Verfügung ohne Lohn- und Nebenkosten, vor allem aber ohne lästige Rechte.
Dies Modell hat Tradition. Sie reicht vom alten Rom über das Dritte Reich bis zum Archipel GULAG.
Das Schlimmste aber daran ist:
Mit ihren verbalen Ausscheidungen erlangen die Herren Westerwelle, Sarrazin und andere die Lufthoheit über den deutschen Stammtischen. Der Deutsche Michel braucht immer einen unter sich, auf dem er herumtrampeln kann, dann macht er gern den Buckel krumm nach oben.Wer niedere Instinkte anspricht, hat als Demagoge stets Erfolg.
Ökonomisch kann das Ganze keinen Sinn ergeben, denn die Zahl der so Diffamierten geht in die Millionen und wer kein Geld hat, kann keines ausgeben, er fällt aus als Konsument.
„Autos können keine Autos kaufen.“
Der das sagte, stand niemals im Verdacht kommunistischer Umtriebe. Es war Henry Ford.
Wer nichts verdient, kann auch keine Beiträge leisten zur Kranken- und Rentenversicherung.
Das potenziert die soziale Brisanz der Massenarbeitslosigkeit.
An diesem sozialen Pulverfass mit pseudoliberalen Brandreden zu zündeln, das überbietet wohl selbst einen Nero an spätrömischer Dekadenz.
mephi
Und ein Kommentar mit trefflichem Vorschlag:
8.März 2010 at 7:05 pm Man möge den Volksvertretern in den Stadt-, Land-, Bund- und EU-Parlamenten eine WEISSE TOGA reichen!
Sie haben sie sich verdient.
Und ebenso den Zerfall ihres “Imperiums”.
Sie haben haben hart, falsch und feige daran gearbeitet.