Opas Geschichten ...
@ 2010-03-06 – 15:54:30
(Die folgende Geschichte ist rein fiktiv, irgendwo der SF oder der Social Fiction zuzuordnen und mir einfach so eingefallen - gestern, im Halbschlaf. Ich hoffe nicht, dass es eine Vision war. Ich befürchte allerdings, dass sie durchaus einmal wahr werden könnte ...)
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"Opa, erzählst du mir noch einmal die Geschichte von damals, wie es vor dem großen Zusammenbruch war?" "Ach Kind, das hast du doch schon mal gehört." "Ich will es aber noch mal hören!" Während von draußen helles Kinderlachen herein schallte, schaltete die Elfjährige auf stur. Ihr Großvater seufzte. Kinder eben! Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatten ... Und seine Enkeltochter war ihrer Zeit entwicklungsmäßig weit voraus. Sie hatte nicht nur Grips, sondern sie setzte den auch ein. Das unterschied sie - selbst heute noch! - von den Meisten ihrer Altersgenossen.
"Bitte Opa - jetzt!" bettelte die Kleine. "Ist ja gut, ich mach's ja" gab der Großvater nach. Er setzte sich, ließ die vergangenen Jahre vor dem geistigen Auge Revue passieren und begann: "Das geschah alles vor dem Jahr 2012. In den davor liegenden drei Jahrzehnten wuchs eine Generation heran, deren Eltern zu den Wohlhabenden und Mächtigen gezählt hatten. Während die noch selbst Sorge dafür tragen mussten, durch Leistung nach oben zu kommen, war das bei deren Kindern anders.
Die sollten es später einmal einfacher als die Eltern haben. Deswegen schickte man die von vornherein auf besonders gute Schulen, wobei Geld keine Rolle spielte, denn diese Kinder stammten ja aus vornehmem Hause. Auf diesen Schulen blieben sie unter sich. Sie kamen aus besseren Verhältnissen und hielten sich nach eigenem Selbstverständnis für etwas Besseres. Auf Menschen außerhalb ihrer eigenen Clique sahen sie mit Verachtung herab, hielten die für minderwertig, für Versager. Sie wurden mit der Zeit so abgehoben, dass sie später sogar Kinderlachen als gesundheitsschädlichen Lärm per Gesetz unter Strafe stellen ließen." "Was für Unmenschen!" schimpfte seine Enkelin.
Der alte Mann unterbrach seine Geschichte kurz und trank einen Schluck von dem frischen Apfelsaft, den die kleine Dorfkelterei unter schwierigen Bedingungen herstellte. Er überlegte einen Moment lang und fuhr fort: "Für die selbsternannte Elite zählten nur Geld, materieller Besitz und Wohlstand. Das wurde zu ihrer Religion. Alles andere war ihnen egal, denn das hatte eben einfach für sie da zu sein. Sie kannten es ja auch gar nicht anders. Nun - aus den Kindern wurden nach dreißig Jahren eben Erwachsene. Als Erwachsene mussten sie einer Arbeit nachgehen. Das ist übrigens ein ganz wichtiger Unterschied gegenüber heute: Damals brauchten die Kinder noch nicht zu arbeiten, denn für den Lebensunterhalt sorgte seinerzeit noch der Staat - als es den noch gab.
Aber weiter. Diesen jungen Erwachsenen aus besseren Verhältnissen waren normale Arbeiten nicht zuzumuten. Sie kannten solche Arbeiten auch nur vom Hörensagen und dieses gefährliche Halbwissen hielten sie für vollkommen ausreichend, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können. Sie kamen direkt aus der Schule in Führungsposition, wurden zu Managern in der Wirtschaft oder zu Politikern." "Politiker kenne ich" unterbrach ihn das Mädchen "das ist sowas wie unser Bürgermeister. Der Bauer Jensen beim Einfassen der neuen Pferdekoppel geholfen hat und der in der Kelterei die Maschinen repariert."
"Es ist nicht ganz so, wie du denkst" korrigierte ihr Opa sie. "Die Politiker von heute und damals kannst du nicht miteinander vergleichen. Heute zählen einzig Fachwissen und dessen Anwendung. Damals war das anders. Ganz anders! Also lass mich weiter erzählen und höre einfach genau zu." Er dachte kurz nach, dann: "Wie schon gesagt, die kamen direkt von der Schule. Selbst gearbeitet hatten die nie. Dennoch machten sie Vorschriften darüber, wie und wo was gearbeitet werden musste - und auch darüber, wie viel oder wenig jemand mit seiner Arbeit verdienen durfte." "Aber das geht doch gar nicht!" unterbrach ihn die Kleine.
"Doch, das geht schon. Aber es funktioniert nicht, weil es nicht funktionieren kann. Doch das merkte keiner, zuerst jedenfalls." "Wieso?!? Wenn einer bloß doof ist, dann kriegt man das doch sofort mit!" "Nein, mein Kind, das kriegen nur die Leute mit, die denken können. Aber das Denken gewöhnte diese neue Führungselite den Menschen ganz schnell ab. Das war auch ziemlich einfach. Denn die kamen gleich auf Posten, wo sie viel Macht erhielten. Auch über die Zeitungen, über das Radio und über das Fernsehen. Und im Internet bestimmten sie, was die Leute sehen durften und was nicht." "Fernsehen - davon hast du schon mal erzählt. Waren das nicht diese Dinger mit den bewegten Bildern? Eine Zeitung habe ich schon mal gesehen - bedrucktes Papier, ganz schön bekloppt, so teuer wie Papier nun mal ist. Ein Radio haben wir ja hier im Dorf. Aber das Wort Internet sagt mir nichts."
"Dann will ich dir das kurz erklären. Zeitungen gab es damals massenhaft, täglich neu und das Papier dafür war kein Problem, denn davon gab es mehr als genug. Das Radio kennst du ja schon aus unserem Dorf. Fernsehen war so ähnlich, nur, dass da der Ton auch noch mit den dazu passenden Bildern unterlegt wurde. Und was das Internet betrifft - das erkläre ich dir später mal. Das würde jetzt zu weit führen. Jedenfalls nannte man all das zusammen 'Die Medien' und die Menschen informierten sich eben über die Medien. In den Medien gab es einen Ehrenkodex: Was dort berichtet wurde, das musste stimmen. Leider hielten sich die neuen Chefs nicht an diesen Ehrenkodex, aber davon wussten nur wenige Menschen - und die hatten nichts zu sagen."
Er trank noch einen Schluck und sprach weiter: "Die meisten Leute glaubten unbesehen all das, was ihnen die Medien so präsentierten. Was in der Zeitung stand, das musste schon allein deswegen richtig sein, weil es in der Zeitung stand." "Ganz schön blöde. Was für Hirnis!" krähte die Elfjährige respektlos. "Ja, aus heutiger Sicht vielleicht. Damals war das aber anders. Wer kontrollierte, was die Medien den Leuten präsentierten, der kanalisierte - und im Endeffekt kontrollierte - auch das Denken. Die elitären Chefs bestimmten, was die Medien zu berichten hatten. So gewöhnten sie den Menschen das Denken ab. Doch es kam noch schlimmer."
"Wie schlimm?" "Die Chefs und auch die Politiker informierten sich ja selbst aus den Medien. So dauerte es nicht lange, bis sie nur noch das erfuhren, was sie erfahren wollten. Alles andere - alles, was ihnen unangenehm war und ihr verzerrtes Weltbild hätte ins Wanken bringen können - wurde sozusagen ausgeblendet. Weil es gar nicht erst berichtet wurde. Und auf diese Weise entwickelte die damalige Führung eine Weltsicht, die mit der tatsächlichen Wirklichkeit kaum noch etwas zu tun hatte. Auch sonderten sie sich mehr und mehr von der normalen Bevölkerung ab. Wer beispielsweise mit ihnen sprechen wollte, der musste dafür bezahlen. Doch wer hatte schon so viel Geld? So konnte man unter sich bleiben. Und die meisten Menschen teilten deren kaputte Sichtweise, weil sie sich aus den immer gleichen, manipulierten Quellen informierten. Sicher, die hätten noch andere Möglichkeiten gehabt. Aber die Bosse denunzierten und verunglimpften diese anderen Quellen, wo es nur ging."
"Und dann?" "Dann wurden die Rohstoffe immer knapper. Zugleich wurde auf dem Papier tatsächlich gar nicht existentes Geld erzeugt und es wurde auch mit diesem Scheingeld gehandelt. Das nannte man Börsenhandel. Dadurch kam es zum Aufblasen eines gigantischen Ballons von nur scheinbar vorhandenen Werten. Als der Ballon schließlich platzte, da kam es zur Weltwirtschaftskrise. Aber anstatt jetzt mal von der rosa Wolke runter auf den Boden der Tatsachen zu kommen, unterstützten sich die oberen Zehntausend gegenseitig. Sie schoben sich gegenseitig heute unvorstellbar große Geldmengen zu und machten weiter wie gehabt. Tatsächlich aber existierte auch dieses Geld gar nicht. Der nächste - der letzte - Ballon von Scheinwerten wurde aufgeblasen."
"Platzte der auch?" "Ja, der platzte auch. Plötzlich stellten sie fest, dass es gar keine Gegenwerte mehr gab. Geld ist nur so lange etwas wert, wie es einen Gegenwert dafür gibt. Wenn du zum Beispiel deine Puppe nimmst, dann hat die einen gewissen Wert in Geldform. Das Geld ohne deine Puppe als Gegenwert ist nichts weiter als sinnloser Tand. Und die damalige Führungsriege sammelte solchen sinnlosen Tand, ohne die Sinnlosigkeit zu erkennen. Die letzte, endgültige Wirtschaftskrise traf sie hart. Es gab auf einmal nichts mehr, womit sie hätten handeln und worüber sie hätten befehlen können. Und etwas anderes konnten sie nicht. Das war so um 2012 herum."
"Sind die dann verhungert?" wollte das Mädchen wissen. "Nein, das sind sie nicht. Aufgrund ihrer Macht konnten sie auf viele Sicherheitskräfte zurück greifen. Mit denen wollten sie die Bevölkerung zwingen, ihnen weiterhin zu Diensten zu sein. Doch das erwies sich als Trugschluss." "Haben die Leute diese - wie sagtest du - oberen Zehntausend dann zu Teufel gejagt?" "Nein, obwohl das vielleicht die beste Lösung gewesen wäre. Doch tatsächlich lief es ganz anders ab."
"Wie denn?" "Die wurschtelten noch ein paar Jahre lang weiter. Ein paar Jahre, in denen die Lebensbedingungen immer schlechter wurden. Sie gaben nicht ihrer eigenen Unfähigkeit, sondern den Menschen, über die sie befahlen, die Schuld daran. Doch immer mehr Leute wandten sich von dieser selbsternannten Elite der Unfähigkeit ab. Weil sie entgegen den bewusst von oben her gefälschten Meldungen in den Medien jetzt ja am eigenen Leibe spürten, dass irgend etwas ganz und gar nicht mehr stimmte.
Leider erfolgte dieses Abwenden aber viel zu spät. Denn, wie schon gesagt, die Rohstoffe waren ja auch alle. Strom zum Beispiel, wie wir ihn heute mühsam selbst erzeugen müssen, gab es damals im Überfluss. Es gab sogar so viel davon, dass wir einen Teil des Stroms an andere Länder verkaufen konnten. Aber ohne die Rohstoffe wurde auch der Strom knapp. Ohne Strom und Rohstoffe konnten keine Nahrungsmittel oder Medikamente mehr von sonstwoher geholt werden. Es kam zu Krankheiten und zu Hungersnöten. Viele Menschen starben; besonders die Winterhalbjahre waren schlimm. Die oberen Zehntausend interessierte das alles aber wenig. Die wollten nur weiter befehlen. Die merkten absolut nicht mehr, was wirklich abging."
"Sag mal - waren diese oberen Zehntausend eigentlich irgendwie krank? Im Kopf, meine ich?" "Kann sein. Aber sie bemerkten das selbst nicht und hielten sich für völlig gesund, denn sie waren ja nach eigenem Verständnis etwas Besseres. Sie nannten sich ganz offen selbst die 'Elite'. Jedenfalls wurde es irgendwann auch für die immer knapper. Und um so weiterleben zu können wie bisher, beauftragten die ihre Sicherheitskräfte, die einfachen Menschen dazu zu zwingen, nur noch für sie zu arbeiten. Das wurde auch durchgezogen, und zwar mit Gewalt. Man fasste Arbeitskräfte in so genannten Lagern zusammen, wo sie vor sich hin vegetierten und tagein, tagaus zur Arbeit gezwungen wurden. Aber ..."
"Aber?" "Aber die Sicherheitskräfte wollten entlohnt werden und das Geld war nichts mehr wert. Mit anderen Worten: Die mussten Essen, Kleidung und Unterkunft erhalten. Bekamen sie aber nicht. Woher auch? Deswegen gingen viele von denen einfach weg. Den Lagern fehlte es danach an Bewachung. Die Leute erkannten ihre Chance und gingen auch einfach weg. Später trafen einige von denen wieder zusammen und gründeten neue Ansiedlungen. So wie unser Dorf hier." "Und was geschah mit den oberen Zehntausend?" "Das weiß keiner so genau. Sie verschwanden einfach. Vielleicht sind sie ja an ihrer eigenen Überheblichkeit zugrunde gegangen und einfach verhungert."
Erneut klang von draußen helles Kinderlachen herein. "So, das reicht jetzt an Geschichten. Raus mit dir! Geh spielen!" Das kleine Mädchen verließ im Laufschritt das leicht baufällige Haus. Kaum draußen kam ihr ein Ball entgegen geflogen. Geistesgegenwärtig fing sie den auf und warf ihn zurück. Der alte Mann sah es und lächelte. Ja, seine Enkelin war nicht nur intelligent. Darüber hinaus konnte die auch zupacken. Sie würde es bestimmt noch mal weit bringen. Vielleicht sogar bis zur Bürgermeisterin ...
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"Opa, erzählst du mir noch einmal die Geschichte von damals, wie es vor dem großen Zusammenbruch war?" "Ach Kind, das hast du doch schon mal gehört." "Ich will es aber noch mal hören!" Während von draußen helles Kinderlachen herein schallte, schaltete die Elfjährige auf stur. Ihr Großvater seufzte. Kinder eben! Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatten ... Und seine Enkeltochter war ihrer Zeit entwicklungsmäßig weit voraus. Sie hatte nicht nur Grips, sondern sie setzte den auch ein. Das unterschied sie - selbst heute noch! - von den Meisten ihrer Altersgenossen.
"Bitte Opa - jetzt!" bettelte die Kleine. "Ist ja gut, ich mach's ja" gab der Großvater nach. Er setzte sich, ließ die vergangenen Jahre vor dem geistigen Auge Revue passieren und begann: "Das geschah alles vor dem Jahr 2012. In den davor liegenden drei Jahrzehnten wuchs eine Generation heran, deren Eltern zu den Wohlhabenden und Mächtigen gezählt hatten. Während die noch selbst Sorge dafür tragen mussten, durch Leistung nach oben zu kommen, war das bei deren Kindern anders.
Die sollten es später einmal einfacher als die Eltern haben. Deswegen schickte man die von vornherein auf besonders gute Schulen, wobei Geld keine Rolle spielte, denn diese Kinder stammten ja aus vornehmem Hause. Auf diesen Schulen blieben sie unter sich. Sie kamen aus besseren Verhältnissen und hielten sich nach eigenem Selbstverständnis für etwas Besseres. Auf Menschen außerhalb ihrer eigenen Clique sahen sie mit Verachtung herab, hielten die für minderwertig, für Versager. Sie wurden mit der Zeit so abgehoben, dass sie später sogar Kinderlachen als gesundheitsschädlichen Lärm per Gesetz unter Strafe stellen ließen." "Was für Unmenschen!" schimpfte seine Enkelin.
Der alte Mann unterbrach seine Geschichte kurz und trank einen Schluck von dem frischen Apfelsaft, den die kleine Dorfkelterei unter schwierigen Bedingungen herstellte. Er überlegte einen Moment lang und fuhr fort: "Für die selbsternannte Elite zählten nur Geld, materieller Besitz und Wohlstand. Das wurde zu ihrer Religion. Alles andere war ihnen egal, denn das hatte eben einfach für sie da zu sein. Sie kannten es ja auch gar nicht anders. Nun - aus den Kindern wurden nach dreißig Jahren eben Erwachsene. Als Erwachsene mussten sie einer Arbeit nachgehen. Das ist übrigens ein ganz wichtiger Unterschied gegenüber heute: Damals brauchten die Kinder noch nicht zu arbeiten, denn für den Lebensunterhalt sorgte seinerzeit noch der Staat - als es den noch gab.
Aber weiter. Diesen jungen Erwachsenen aus besseren Verhältnissen waren normale Arbeiten nicht zuzumuten. Sie kannten solche Arbeiten auch nur vom Hörensagen und dieses gefährliche Halbwissen hielten sie für vollkommen ausreichend, um sich ein Urteil darüber erlauben zu können. Sie kamen direkt aus der Schule in Führungsposition, wurden zu Managern in der Wirtschaft oder zu Politikern." "Politiker kenne ich" unterbrach ihn das Mädchen "das ist sowas wie unser Bürgermeister. Der Bauer Jensen beim Einfassen der neuen Pferdekoppel geholfen hat und der in der Kelterei die Maschinen repariert."
"Es ist nicht ganz so, wie du denkst" korrigierte ihr Opa sie. "Die Politiker von heute und damals kannst du nicht miteinander vergleichen. Heute zählen einzig Fachwissen und dessen Anwendung. Damals war das anders. Ganz anders! Also lass mich weiter erzählen und höre einfach genau zu." Er dachte kurz nach, dann: "Wie schon gesagt, die kamen direkt von der Schule. Selbst gearbeitet hatten die nie. Dennoch machten sie Vorschriften darüber, wie und wo was gearbeitet werden musste - und auch darüber, wie viel oder wenig jemand mit seiner Arbeit verdienen durfte." "Aber das geht doch gar nicht!" unterbrach ihn die Kleine.
"Doch, das geht schon. Aber es funktioniert nicht, weil es nicht funktionieren kann. Doch das merkte keiner, zuerst jedenfalls." "Wieso?!? Wenn einer bloß doof ist, dann kriegt man das doch sofort mit!" "Nein, mein Kind, das kriegen nur die Leute mit, die denken können. Aber das Denken gewöhnte diese neue Führungselite den Menschen ganz schnell ab. Das war auch ziemlich einfach. Denn die kamen gleich auf Posten, wo sie viel Macht erhielten. Auch über die Zeitungen, über das Radio und über das Fernsehen. Und im Internet bestimmten sie, was die Leute sehen durften und was nicht." "Fernsehen - davon hast du schon mal erzählt. Waren das nicht diese Dinger mit den bewegten Bildern? Eine Zeitung habe ich schon mal gesehen - bedrucktes Papier, ganz schön bekloppt, so teuer wie Papier nun mal ist. Ein Radio haben wir ja hier im Dorf. Aber das Wort Internet sagt mir nichts."
"Dann will ich dir das kurz erklären. Zeitungen gab es damals massenhaft, täglich neu und das Papier dafür war kein Problem, denn davon gab es mehr als genug. Das Radio kennst du ja schon aus unserem Dorf. Fernsehen war so ähnlich, nur, dass da der Ton auch noch mit den dazu passenden Bildern unterlegt wurde. Und was das Internet betrifft - das erkläre ich dir später mal. Das würde jetzt zu weit führen. Jedenfalls nannte man all das zusammen 'Die Medien' und die Menschen informierten sich eben über die Medien. In den Medien gab es einen Ehrenkodex: Was dort berichtet wurde, das musste stimmen. Leider hielten sich die neuen Chefs nicht an diesen Ehrenkodex, aber davon wussten nur wenige Menschen - und die hatten nichts zu sagen."
Er trank noch einen Schluck und sprach weiter: "Die meisten Leute glaubten unbesehen all das, was ihnen die Medien so präsentierten. Was in der Zeitung stand, das musste schon allein deswegen richtig sein, weil es in der Zeitung stand." "Ganz schön blöde. Was für Hirnis!" krähte die Elfjährige respektlos. "Ja, aus heutiger Sicht vielleicht. Damals war das aber anders. Wer kontrollierte, was die Medien den Leuten präsentierten, der kanalisierte - und im Endeffekt kontrollierte - auch das Denken. Die elitären Chefs bestimmten, was die Medien zu berichten hatten. So gewöhnten sie den Menschen das Denken ab. Doch es kam noch schlimmer."
"Wie schlimm?" "Die Chefs und auch die Politiker informierten sich ja selbst aus den Medien. So dauerte es nicht lange, bis sie nur noch das erfuhren, was sie erfahren wollten. Alles andere - alles, was ihnen unangenehm war und ihr verzerrtes Weltbild hätte ins Wanken bringen können - wurde sozusagen ausgeblendet. Weil es gar nicht erst berichtet wurde. Und auf diese Weise entwickelte die damalige Führung eine Weltsicht, die mit der tatsächlichen Wirklichkeit kaum noch etwas zu tun hatte. Auch sonderten sie sich mehr und mehr von der normalen Bevölkerung ab. Wer beispielsweise mit ihnen sprechen wollte, der musste dafür bezahlen. Doch wer hatte schon so viel Geld? So konnte man unter sich bleiben. Und die meisten Menschen teilten deren kaputte Sichtweise, weil sie sich aus den immer gleichen, manipulierten Quellen informierten. Sicher, die hätten noch andere Möglichkeiten gehabt. Aber die Bosse denunzierten und verunglimpften diese anderen Quellen, wo es nur ging."
"Und dann?" "Dann wurden die Rohstoffe immer knapper. Zugleich wurde auf dem Papier tatsächlich gar nicht existentes Geld erzeugt und es wurde auch mit diesem Scheingeld gehandelt. Das nannte man Börsenhandel. Dadurch kam es zum Aufblasen eines gigantischen Ballons von nur scheinbar vorhandenen Werten. Als der Ballon schließlich platzte, da kam es zur Weltwirtschaftskrise. Aber anstatt jetzt mal von der rosa Wolke runter auf den Boden der Tatsachen zu kommen, unterstützten sich die oberen Zehntausend gegenseitig. Sie schoben sich gegenseitig heute unvorstellbar große Geldmengen zu und machten weiter wie gehabt. Tatsächlich aber existierte auch dieses Geld gar nicht. Der nächste - der letzte - Ballon von Scheinwerten wurde aufgeblasen."
"Platzte der auch?" "Ja, der platzte auch. Plötzlich stellten sie fest, dass es gar keine Gegenwerte mehr gab. Geld ist nur so lange etwas wert, wie es einen Gegenwert dafür gibt. Wenn du zum Beispiel deine Puppe nimmst, dann hat die einen gewissen Wert in Geldform. Das Geld ohne deine Puppe als Gegenwert ist nichts weiter als sinnloser Tand. Und die damalige Führungsriege sammelte solchen sinnlosen Tand, ohne die Sinnlosigkeit zu erkennen. Die letzte, endgültige Wirtschaftskrise traf sie hart. Es gab auf einmal nichts mehr, womit sie hätten handeln und worüber sie hätten befehlen können. Und etwas anderes konnten sie nicht. Das war so um 2012 herum."
"Sind die dann verhungert?" wollte das Mädchen wissen. "Nein, das sind sie nicht. Aufgrund ihrer Macht konnten sie auf viele Sicherheitskräfte zurück greifen. Mit denen wollten sie die Bevölkerung zwingen, ihnen weiterhin zu Diensten zu sein. Doch das erwies sich als Trugschluss." "Haben die Leute diese - wie sagtest du - oberen Zehntausend dann zu Teufel gejagt?" "Nein, obwohl das vielleicht die beste Lösung gewesen wäre. Doch tatsächlich lief es ganz anders ab."
"Wie denn?" "Die wurschtelten noch ein paar Jahre lang weiter. Ein paar Jahre, in denen die Lebensbedingungen immer schlechter wurden. Sie gaben nicht ihrer eigenen Unfähigkeit, sondern den Menschen, über die sie befahlen, die Schuld daran. Doch immer mehr Leute wandten sich von dieser selbsternannten Elite der Unfähigkeit ab. Weil sie entgegen den bewusst von oben her gefälschten Meldungen in den Medien jetzt ja am eigenen Leibe spürten, dass irgend etwas ganz und gar nicht mehr stimmte.
Leider erfolgte dieses Abwenden aber viel zu spät. Denn, wie schon gesagt, die Rohstoffe waren ja auch alle. Strom zum Beispiel, wie wir ihn heute mühsam selbst erzeugen müssen, gab es damals im Überfluss. Es gab sogar so viel davon, dass wir einen Teil des Stroms an andere Länder verkaufen konnten. Aber ohne die Rohstoffe wurde auch der Strom knapp. Ohne Strom und Rohstoffe konnten keine Nahrungsmittel oder Medikamente mehr von sonstwoher geholt werden. Es kam zu Krankheiten und zu Hungersnöten. Viele Menschen starben; besonders die Winterhalbjahre waren schlimm. Die oberen Zehntausend interessierte das alles aber wenig. Die wollten nur weiter befehlen. Die merkten absolut nicht mehr, was wirklich abging."
"Sag mal - waren diese oberen Zehntausend eigentlich irgendwie krank? Im Kopf, meine ich?" "Kann sein. Aber sie bemerkten das selbst nicht und hielten sich für völlig gesund, denn sie waren ja nach eigenem Verständnis etwas Besseres. Sie nannten sich ganz offen selbst die 'Elite'. Jedenfalls wurde es irgendwann auch für die immer knapper. Und um so weiterleben zu können wie bisher, beauftragten die ihre Sicherheitskräfte, die einfachen Menschen dazu zu zwingen, nur noch für sie zu arbeiten. Das wurde auch durchgezogen, und zwar mit Gewalt. Man fasste Arbeitskräfte in so genannten Lagern zusammen, wo sie vor sich hin vegetierten und tagein, tagaus zur Arbeit gezwungen wurden. Aber ..."
"Aber?" "Aber die Sicherheitskräfte wollten entlohnt werden und das Geld war nichts mehr wert. Mit anderen Worten: Die mussten Essen, Kleidung und Unterkunft erhalten. Bekamen sie aber nicht. Woher auch? Deswegen gingen viele von denen einfach weg. Den Lagern fehlte es danach an Bewachung. Die Leute erkannten ihre Chance und gingen auch einfach weg. Später trafen einige von denen wieder zusammen und gründeten neue Ansiedlungen. So wie unser Dorf hier." "Und was geschah mit den oberen Zehntausend?" "Das weiß keiner so genau. Sie verschwanden einfach. Vielleicht sind sie ja an ihrer eigenen Überheblichkeit zugrunde gegangen und einfach verhungert."
Erneut klang von draußen helles Kinderlachen herein. "So, das reicht jetzt an Geschichten. Raus mit dir! Geh spielen!" Das kleine Mädchen verließ im Laufschritt das leicht baufällige Haus. Kaum draußen kam ihr ein Ball entgegen geflogen. Geistesgegenwärtig fing sie den auf und warf ihn zurück. Der alte Mann sah es und lächelte. Ja, seine Enkelin war nicht nur intelligent. Darüber hinaus konnte die auch zupacken. Sie würde es bestimmt noch mal weit bringen. Vielleicht sogar bis zur Bürgermeisterin ...
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