Kriegführende Mächte leben grundsätzlich immer in einem Dilemma. Spätestens Vietnam brachte die Erkenntnis, dass wahrhaftige Bilder echten Tötens in Kriegen meist bei denen nicht so gut ankommen, die die zukünftigen Toten aus ihren Familien stellen müssen.
Die, die körperlich und/oder geistig schwer beschädigt oder sogar zerstört aus Kriegen heimkehren, haben diese Bilder alle mit eigenen Augen gesehen. Viele, wir wissen dies von Bundeswehrsoldaten, leiden an diesen Bildern bis an ihr Lebensende.
Deshalb werden uns Bilder vorenthalten - und nicht nur die fotografischen bzw. filmischen, sondern auch die in Worte gefassten zeigt man uns nicht. Das Sterben soll unsichtbar werden, selbst an den Zahlen wird so lange "gearbeitet", bis sie weniger furchtbar klingen.
Oft wird uns die Wahrheit zusammen mit den Bildern vorenthalten, weil viele, viel zu viele der Geschichten hinter dem Sterben einfach zu entsetzlich sind und uns nahetreten; viel näher, als es eine abstrakte Zahl jemals vermag. Wer mag vom Gefühl her schon unterscheiden, ob ich von "10.000" Toten spreche oder von "12.000". Fass- und fühlbar wird das Entsetzen erst, wenn ich jedem der Toten ein Gesicht und eine Geschichte gebe.
(Quelle: Qantara.de)
Stets bemühen sich die, die einen Krieg führen, gewisse Geschehnisse vor der Öffentlichkeit zu verbergen. Nichts anderes heißt es, ein Dokument als "streng geheim" zu klassifizieren. Denn auch der moderne Krieg und sogar der, für den es gute, humanitäre Gründe geben mag, ist ein Krieg. Und das bedeutet, Menschen zu töten, die man als Feinde identifiziert hat. Menschen zu töten, setzt voraus sie zu entmenschlichen und dieser Vorgang entmenschlicht auch die Täter.
Menschen, die ja alle Töchter und Söhne und allzu oft auch Väter und Mütter sind, muss das genommen werden, was sie zu Menschen macht: ihre menschliche Empfindung, ihr Mitgefühl. Und den Opfern muss alles genommen werden, was sie zu Menschen macht, denn sonst hätten sie nie zu Opfern gemacht werden können. Man nimmt ihnen ihr Gesicht. Man nimmt ihnen die Vater-, die Mutter-, die Tochter- und die Sohnesschaft. Man nimmt ihnen ihre Geschichte.
In unserer intellektuell immer weiter absinkenden, völlig desinteressierten und zunehmend ungebildeten Gesellschaft sind uns die Geschichten hinter den Kriegen, in denen unsere Soldaten ebenso sterben und töten wie die "gegnerischen" Kämpfer, ist der Schrecken des Krieges unbeliebt. Er wird verdrängt, vergessen und mit Konsum ersäuft; wir stehen fassungslos und menschlich unfähig vor dem Leid der Familien, die durch die Rücksendung ihres Soldaten in Plastikfolie plötzlich aufwachen und lernen mussten, was Krieg eigentlich wirklich ist.
Sie sollen weggehen, die Betroffenen, die Leidenden, die Angeschossenen und die Toten und wir wollen sie nicht sehen, die bizarr verrenkten und zerrissenen, "gegnerischen" Kämpfer. Uns interessiert ihre Geschichte und ihre Existenz nicht, weil wir sie nicht ertragen wollen - obschon wir es könnten und natürlich auch müssten.
Wir sehen weg.
Wir vergessen.
Wir WOLLEN vergessen.
"Wikileaks entreißt die schmutzige Wahrheit des Krieges dem bewussten Vergessen. Ich sage Vergessen, denn man kann nur vergessen, was man bereits weiß. Wir wissen natürlich alle, was Krieg bedeutet, aber wir wollen es nicht wahrnehmen, wenn wir die täglichen Agentur-Meldungen über zivile Opfer der Nato-Truppen und Selbstmordanschläge auf Moscheen oder ISAF-Konvois lesen. Auf jeden Fall nicht die dahinter liegenden Geschichten."
Wir kennen sie alle, diese Geschichten und wir wissen, dass es noch sehr viel mehr davon gibt, geben muss, als wir kennen. Weil wir häufig rechtzeitig genug abwinken, wegsehen, nachschütten und trinken, feiern und ganz bewusst in Bewusstlosigkeit versinken mit psychologischen Turboschnaps: "ICH kann doch GAR NICHTS dafür!"
Aber natürlich können wir alle etwas dafür, niemand ist schuldlos daran.
"Die Geschichte von der Hochzeitsfeier in Nangarhar, die bombardiert wird und eine ganze Familie auslöscht, die Geschichte von dem Soldaten, der in Urusgan ein Bein verliert, schwer traumatisiert nach Hause zurückkehrt und bis heute auf Anerkennung wartet.
Die Geschichte von der Frauenbeauftragten in Kandahar, die vor ihrer Haustür niedergeschossen wird, die Geschichte des Gouverneurs von Ghazni, den einen Bombe zerreißt als er in einer Moschee für einen Verstorbenen betet und die Geschichte des Taxifahrers, der an einer Straßensperre in Kabul festgenommen, ins Militärgefängnis von Bagram gesteckt wird und erst Jahre später unschuldig aber von der Folter zerbrochen entlassen wird."
Nein nein nein nein ..... das WOLLEN wir nicht!
Und deshalb frequentiert auch kaum jemand die neuerliche Dokumentenfülle von Wikileaks.
All die Gesichter dieser Toten, sie stören uns in unseren endlosen Tagträumen, beim Shoppen und beim Urlauben. Wir mögen sie nicht. Die, die töten und sterben sollen, die mögen dies in unserem Namen aber unsichtbar tun; springt etwas für uns dabei heraus, so sollen sie es auch weiterhin tun, unseren Segen haben sie.
Aber nein nein nein - frage uns niemals jemand nach unserer Verantwortung für die vielen tausend Geschichten, die nie ein Happy End haben werden oder können. Die in unwürdigen Schlammlöchern enden, in dreckigen Schützengräben und die uns schmerzzerrissene Angehörige zeigen, die vor ihren zerbombten Häusern und Angehörigen um Hilfe und Erklärung weinen.
Die wollen wir alle nicht.