Was keiner erfahren soll
Nach fast einem Jahr befragt der Kundus-Untersuchungsausschuß erstmals eine afghanische Zeugin. Die Presse nimmt davon keine Notiz. Offenbar ist das so gewollt
Von Jörn Boewe *Vier bis sechs Taliban, aber 133 Zivilisten – das ist die tödliche Bilanz des Luftangriffs von Kundus, den ein Kommandeur der Bundeswehr am 4. September 2009 veranlaßte. Habibe Erfan, Abgeordnete im Provinzrat von Kundus, Ärztin und Aktivistin einer Organisation zum Schutz von Frauenrechten, nannte die Zahlen am Donnerstag (28. Okt.) vor dem Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages. Keine Zeitung, kein Fernseh- oder Rundfunksender der Republik berichtete darüber, auch kein Onlinemedium. Seit 16. Dezember 2009 soll der Verteidigungsausschuß die Hintergründe der bislang verheerendsten, durch deutsche Kommandogewalt ausgelösten Einzeloperation des Afghanistan-Krieges untersuchen. »Soll« meint in diesem Zusammenhang nicht, daß Aufklärung beabsichtigt sei, sondern: Angeblich findet da etwas statt. Am Tag nach der Zeugenbefragung von Erfan, also gestern, gab es nirgends auch nur den kleinsten Hinweis, daß der Ausschuß überhaupt getagt hatte. Wer es wissen wollte, konnte es dennoch erfahren: Die Abgeordneten der Linken Christine Buchholz und Jan van Aken hatten für Freitag vormittag ein Pressegespräch mit der afghanischen Zeugin organisiert.
Habibe Erfan, seit 15 Jahren praktizierende Frauenärztin in der Provinz Kundus und Kandidatin zu den Parlamentswahlen im September 2010, war auf Initiative der Linken vor den Untersuchungsausschuß geladen worden. Es war das erste Mal überhaupt, daß das immerhin schon im vergangenen Jahr konstituierte Gremium jemanden aus Afghanistan befragte.
Erfan hatte unmittelbar nach dem Bombardement mit einem sechsköpfigen Team Anzahl und Identität von Getöteten und Verletzten recherchiert, dokumentiert, Aussagen und Beweise gesammelt und so gemeinsam mit dem Bremer Rechtsanwalt Karim Popal Grundlagen für zivilrechtliche Schritte der Angehörigen gegen die Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Am 7. September, drei Tage nach dem Angriff, habe sie erstmals Hinterbliebene der Opfer des Bombardements in ihren Dörfern besucht, rekapitulierte sie am Freitag ihre Aussage vor dem Ausschuß. Nach den zahlreichen Gesprächen, die sie in den folgenden Wochen mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer führte, hat sich dort in der Nacht vom 3. zum 4. September 2009 ungefähr folgendes zugetragen: Auf offenbar unterschiedlichen Wegen erfuhren die dortigen Anwohner in den späten Abendstunden davon, daß sich in einer Furt des Kundus-Flusses zwei zivile Tanklastwagen, einer beladen mit Benzin, einer mit Diesel, festgefahren hatten. Einige Dörfler hätten berichtet, durch »Fluglärm« aufmerksam geworden zu sein. Dabei könnte sich entweder um die KZO-Drohnen (»Kleinfluggerät für Zielortung«) gehandelt haben, mit denen die Bundeswehr die festsitzenden Fahrzeuge zunächst stundenlang aufzuklären versuchte, wie auch um die später angeforderten B-1B-Kampfbomber der US-Airforce. Auch diese beobachten die Situation vor dem Angriff mehrere Stunden lang aus der Luft. Andere Dorfbewohner seien direkt von den Taliban aufgefordert worden, Kraftstoff von den Lastern wegzuschaffen, so Erfan. Offenbar versuchten die Aufständischen, die festsitzenden Fahrzeuge auf diese Weise zu erleichtern, um sie wieder flottzukriegen. Auch die Absicht, mit der Verteilung der wertvollen Kriegsbeute Sympathien bei der lokalen Bevölkerung zu gewinnen, mag eine Rolle gespielt haben.
Es spreche jedoch nichts dafür, daß mehr als »vier bis sechs« Taliban-Kämpfer am Ort gewesen seien, so Erfan. Dies ergebe sich schon aus der geringen Zahl von Waffenüberresten, die NATO-Ermittler unmittelbar nach dem Bombenangriff sicherstellen konnten. Sicher sei dagegen, daß 25 oder 26 Schüler im Alter von fünf bis 16 Jahren getötet wurden – dies hätten Aussagen von Lehrern und Schuldirektoren ergeben. Auch »60 bis 70 Wahlausweise« von Getöteten befänden sich unter den Beweismaterialien, die sie und ihr Team sichergestellt hätten, so Erfan. Dies spreche ebenfalls dagegen, daß es sich um Taliban gehandelt habe – immerhin hätten diese die Wahlen boykottiert. Auch die afghanische Regierung, die zunächst von 30 getöteten Taliban gesprochen hatte, habe diese Angaben aufgrund der Recherchen ihres Teams korrigieren müssen, betonte die Provinzrätin. In nahezu jeder Familie der umliegenden Dörfer habe es durch den Bombenangriff »zwei bis fünf Opfer« gegeben, so Erfan. Zu den 133 dokumentierten Toten kämen noch sieben Verletzte. Ziel des unter Federführung von Anwalt Popal vorbereiteten Klageverfahren sei es, eine gerechte Entschädigung für die Hinterbliebenen von der Regierung der Bundesrepublik Deutschland einzuklagen.
* Aus: junge Welt, 30. Oktober 2010
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