Hierbei bediente Mao Zedong sich der leicht zu mobilisierenden und manipulierbaren Jugend (vor allem der Nachkommen der Funktionäre), die seit 1963/64 wieder verstärkt auf den „Vorsitzenden Mao“ eingeschworen worden war und ab 1966 dazu angestachelt wurde, den Klassenkampf gegen den vermuteten inneren Feind zu führen. Dies war zunächst die chinesische Kultur selbst, und somit ihre Träger, allen voran die Gebildeten und Gelehrten, sowie die kulturellen Güter und Lebensweisen des Landes. Ins Visier der Kulturrevolution gerieten rasch die verantwortlichen Parteimitglieder, d. h. die landesweite Verwaltung, die nach dem katastrophalen Großen Sprung nach vorn die Versorgungslage unabhängig vom Parteivorsitzenden wieder in den Griff bekommen hatte.
Zitat aus Wikipedia
http://de.wikipedia.org/wiki/Kulturrevolution
Kulturvernichtung ist nichts Neues, sie geschah auch bei uns, besonders gründlich während der Nazizeit Hitlers. Auch Hitler nutzte die Begeisterungsfähigkeit der Jugend, und die Ergebnisse dessen, was dieser Jugend über lange Zeit vorher an preussischem Drill, an Erziehung zu Härte und Disziplin, an Stolz auch und Empfinden eingetrichtert worden war.
Wir machen heute unsere Unkulturrevolutionen noch langsamer, unauffälliger vor allem. So ist gewährleistet, dass sie gründlicher stattfinden, fast unmerklich verinnerlicht werden, dafür wird gesorgt, indem dafür eingängige Stammtischbeispiele aus der Realität der Menschen zu Grunde gelegt werden.
Denn, es fehlt für Besseres ein eingängiges Leitbild, nach dem Kanzlerin Merkel seit sie in Amt und Würden ist, gerufen hat. Leider hat sich nichts Passables auf ihren Aufruf ergeben, sodass sie zum christlichen Abendlandsbild zurückgekehrt ist. Dieses war allerdings noch nie ein Hinderungsgrund gegen die Anwendung von Unmenschlichkeiten.
Daraus hat sich das jetzige, aktuelle Leitbild herauskristallisiert, nach dem immer unverschämter gehandelt wird: Die sogenannte neue Marktwirtschaft, mit dem Sozialdarwinismus als Grundlage. Das was sich als Auflehnung dagegen gebärdet, ist bisher so anständig, dass es von den Machern dieses neuen Leitbildes getrost übergangen werden kann,- was auch geschieht.
Trotzdem sagen viele Deutsche, dass sich Geschichte nicht wiederholen wird, schliesslich sind wir aufgeklärt, zivilisiert, und was noch alles - also, schlicht gute Deutsche geworden - wir machen so eine Sache wie bei Hitler nicht mehr. Wirklich?
Dazu gibt es heute einige interressante Beiträge:
http://kritische-massen.over-blog.de/article-brandstifter-sarrazin-und-sloterdijk-und-ihr-brennmaterial-53437361.html
Vor allem auch dies hier:
http://kritische-massen.over-blog.de/ext/http://www.nadir.org/nadir/periodika/aib/archiv/87/38.php
Der Wille zur Ausgrenzung - Zur Debatte um Sarrazin und Sloterdijk
Ende September 2009 erschien in der Berliner Kulturzeitschrift »Lettre International« ein Interview mit dem ehemaligen Berliner Finanzsenator und heutigen Bundesbank-Vorstandsmitglied Thilo Sarrazin, das eine enorme Sprengkraft hatte. Dieser Artikel zeichnet die Debatte nach und zeigt an ihr exemplarisch Funktionsweisen des Ungleichheitsdiskurses auf.
Zur Erinnerung: Sarrazin meinte, er müsse niemanden anerkennen, der vom Staat lebe, diesen Staat ablehne und ständig »neue kleine Kopftuchmädchen« produziere. Dies treffe auf siebzig Prozent der türkischen und gar neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung zu, die weder integrationswillig noch integrationsfähig seien und außer für den Gemüsehandel »keine produktive Funktion« hätten. Diese Fragmente dürften die meist zitierten in der Diskussion nach Veröffentlichung des Interviews sein. Der Fokus dieses Artikels liegt jedoch nicht auf den zahlreichen weiteren rassistischen Aussagen Sarrazins. Sondern es geht darum, Schlüsse aus der Debatte zu ziehen, in die sich die Diskussion um das Interview einreiht.
Die Debatte nach den Brand-Sätzen Sarrazins
Sarrazin fand schnell Unterstützung. Der Schriftsteller Ralph Giordano gab ihm »vollkommen recht«, der ehemalige BDI-Chef Hans-Olaf Henkel unterstützte ihn »ohne wenn und aber«, der Journalist Henryk M. Broder meinte gar: »Sarrazin hat Recht, man könnte ihm allenfalls vorwerfen, dass er in seiner Analyse nicht weit genug geht.« Die Liste der Befürworter_innen ließe sich noch weiter fortführen. Dem gegenüber standen jedoch zahlreiche Kritiker_innen, die Sarrazin Rassismus und geistige Nähe zur extremen Rechten vorwarfen. Nach einer ersten Welle der polarisierten Reaktionen glätteten sich jedoch schnell die Wogen. In einer zweiten Welle, ca. eine Woche nach Veröffentlichung des Interviews, näherten sich die Positionen an. In den Leitkommentaren der Zeitungen, die Sarrazin vorher noch scharf kritisierten, waren plötzlich auch Sätze wie folgender in der ZEIT zu lesen: »Wir werden euch schneller als Teil dieses Landes akzeptieren, wenn ihr euch mehr reinhängt.« Ein häufiger Mechanismus bei solchen Debatten setzte ein: Ging es zunächst noch um den Rassismus der Mehrheitsgesellschaft, drehte sich kurze Zeit später die ganze Debatte um die vermeintlich mangelnde Integrationsbereitschaft der Betroffenen.
Für viel Aufsehen sorgte eine von Teilen der SPD in Auftrag gegebene Studie. Darin kam der Gutachter Gideon Botsch zu dem Ergebnis, dass die zentralen Passagen im Interview »eindeutig als rassistisch zu betrachten« seien. In der Studie sollten allerdings kaum die angeblichen Fakten oder die fragwürdigen bis nicht vorhandenen Quellen der Sarrazinschen Thesen hinterfragt werden, sondern hauptsächlich die Art und Weise ihrer Präsentation. Es scheint, als verstecken sich die parteiinternen Kritiker_innen nicht nur hinter dem Mantel wissenschaftlicher Objektivität, anstatt selbst die direkte Konfrontation zu suchen, sondern wagen es auch nicht, den eigentlichen Kern der Aussagen Sarrazins anzugreifen. Ein anständiger Aufstand eben.
Vorbereitung und Unterstützung durch Sloterdijk
Die Debatte um das Sarrazin-Interview entzündete sich nicht im luftleeren Raum. Die breite mediale Öffentlichkeit wurde Sarrazin zuteil, weil die jeweiligen politischen Dominanzen und Konjunkturen dafür günstig waren. Sorgfältig vorbereitet und eingeleitet wurde der Diskurs beispielsweise vom Philosophen Peter Sloterdijk. In der FAZ veröffentlichte er bereits im Juni 2009 einen Artikel, in dem er eine angebliche Umkehrung der Ausbeutungsverhältnisse feststelle. Während »im ökonomischen Altertum« die Reichen auf Kosten der Armen lebten, könnte es in der »ökonomischen Moderne« kommen, »dass die Unproduktiven mittelbar auf Kosten der Produktiven leben.« Es sei an den Leistungsträgern, sich der Ausbeutung durch den Steuerstaat zu widersetzen – die angebrachte Reaktion auf die hiesige Form des »Semisozialismus« wäre ein »fiskalischer Bürgerkrieg«.
Bezugnehmend auf die Debatte um Sarrazin legte Sloterdijk dann im November im konservativen Cicero mit seinem »Bürgerlichen Manifest« nach. Gleich zu Beginn wirft er der Gesellschaft vor, sich in einem »System der Unterwürfigkeit« eingerichtet zu haben. In diesem Zusammenhang erinnert Sloterdijk an den »entlarvenden Vorgang« anlässlich »einiger kantiger Formulierungen« Sarrazins. Auffälligerweise geht er nicht explizit auf die Aussagen Sarrazins ein, verteidigt diesen aber umso energischer, indem er einer imaginierten deutschen »Meinungs-Besitzer-Szene« vorwirft, sich in einen »Käfig voller Feiglinge« verwandelt zu haben. Offensichtlich sind für Sloterdijk die rassistischen Aussagen Sarrazins kein Problem, wirklich gefährlich erscheint ihm angesichts seiner deutlichen Worte die »Epidemie des Opportunismus«, die sich in einer allgemein erwarteten »Sklavensprache« ausdrücke und »Wahrheit« mit Existenzvernichtung bestrafe.
Diskurs der Ungleichheit
Der »Eliten-Rassismus« Sarrazins und die feuilletonistische Variante eines Sloterdijks haben einen gemeinsamen Nenner, der als »Diskurs der Ungleichheit« bezeichnet werden kann. Ziel dieses Diskurses ist, die Teile der Gesellschaft auszugrenzen, die in der kapitalistischen Logik scheinbar keinen Mehrwert mehr produzieren (können). Im nächsten Schritt folgt die Absprechung eines generellen Werts – mit einem für die Herrschenden interessanten Effekt: Die Betroffenen wehren sich gegen die gesellschaftliche Ausgrenzung und kämpfen für Teilhabe am Arbeitsmarkt – im gewissen Sinne also dafür, wieder ausgebeutet zu werden. Die (noch) Ausgebeuteten sollen ihrerseits eine klare Trennlinie zu den Ausgegrenzten ziehen, weil diese in dieser Logik auf ihre Kosten leben. Von diesem Mechanismus des Verhältnisses Ausbeutung und Ausgrenzung sind nicht nur (vermeintliche) Migrant_innen betroffen, sondern auch Hartz-IV-Empfänger_innen, Leiharbeiter_innen etc. Jedoch fallen rassistische Positionen aufgrund der völkisch-nationalistischen Konstante im Selbstverständnis der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft auf fruchtbaren Boden. Die Ideologie der Ethnisierung des Sozialen hat Hochkonjunktur.
Die sogenannte Elite wirkt wesentlich auf den Diskurs ein, verfügt sie doch über weitaus mehr diskursive Ressourcen, um Interpretationen oder soziale Überzeugungen zu beeinflussen. Trotzdem sind alle Personen nicht einfach nur Objekte eines von der Elite aufgedrückten Diskurses. Auch wenn die Zugänge zu einer Veränderung herrschender Diskurse erschwert werden, sind alle Beteiligten immer auch (Re-)Produzent_innen.
Dies ist eine entscheidende Erkenntnis für die Perspektiven antifaschistischer Politik. Es sollte darum gehen, die eigenen Wissens- und Denkstrukturen ständig zu reflektieren und sich dafür zu sensibilisieren, wann mit welchen Aussagen und Handlungen herrschende Ungleichheitsdiskurse bedient und somit Ausgrenzungen gefördert werden. So werden beispielsweise antimuslimische Argumentationsmuster, die ebenfalls die Funktion der Ausgrenzung durch Imaginierung von Ungleichheit haben, selbst in Teilen sich als radikal links verstehender Personen und Gruppen durch Zuschreibungen reproduziert. Wer jedoch in der Form den Diskurs der Ungleichheit übernimmt, ist machtlos, wenn Leute wie Sarrazin oder Sloterdijk die Inhalte nach Ihrem Gutdünken mit rassistischen Mustern in diesen Diskurs einspeisen.
Um nicht bewusst oder unbewusst hegemoniale, antiemanzipatorische Diskurse zu bedienen, müssten ihre Strukturen und Verschränkungen genauer beleuchtet werden, um sie dann brechen zu können.
In Bezug auf Kultur und Unmenschlichkeit hat Roberto einen Beitrag geschrieben, der sehr nachdenklich macht:
http://ad-sinistram.blogspot.com/2010/07/und-es-konnte-sich-doch-wiederholen.html
Und es könnte sich doch wiederholen!
Montag, 5. Juli 2010
Als die angejahrte Vulpius des Geheimrats Sträucher und Kräuter goss, hätte nur ein Schulterblick gereicht, um jenes Berglein zu erblicken, auf welchem knapp mehr als ein Jahrhundert später, Menschen haufenweise ausgerottet würden - um jene Erhebung zu erspähen, die in künftigen Tagen nicht hinauf, sondern hinab führen sollte: hinab in die Tiefen einer Hölle irdischer Machart. Vom Hause Goethes aus, so wird berichtet, konnte man den Ettersberg betrachten. Goethes Haus, das wie kein anderes deutsche Kultur, das berühmte Dichter- und Denkertum, versinnbildlicht: von dort war es möglich jene Erhebung anzusehen, die die andere Seite "deutscher Leistungen" veranschaulicht.
Man stelle sich nur vor, die Vulpius wäre damals von einem düsteren Propheten bei der Verrichtung ihrer Gartenarbeit gestört worden - von einem Künder, der gedankenschwanger mit dem Finger gen Ettersberg gedeutet hätte, dabei Colonel Kurtz' Ausruf vorwegnehmend: Das Grauen, das Grauen! Und auf Nachfragen der Vulpius hätte der gemütskrank wirkende Seher von dem erzählt, was mehr als hundert Jahre danach jene sehen würden, die das dort erbaute Tor zur Hölle durchschritten hatten. Ungeheuerlichkeiten für ein Ohrenpaar des 19. Jahrhunderts - unerhört und allerhand! Vielleicht hätte sie dem armen Irren ein Paar Groschen zugeworfen, ihm Trost zugesprochen und ihn mitleidig angelächelt - vielleicht hätte sie ihn auch verscheucht und darüberhinaus ausgelacht. Genau vermag man ihre Reaktion nicht mehr nachzuvollziehen, denn erstens ist all das zu lange her und, zweitens, so nie geschehen.
So oder so: es hätte hanebüchen geklungen, dass hier, in der Wiege hoher Kultur, an jenem Ort, wo Schiller wirkte und Goethe gerade noch am Wirken war, ein Reich der Marter und der Höllenqualen ausbrechen würde. Bei den Wilden dieser Welt - dort ja! Bei den Negern und Chinesen vielleicht, aber doch nicht in Weimar! Laß gut sein, Christiane, hätte der Dichter ihr geraten. Du wirst dir doch von so einem närrischen Kerl nicht unser lauschiges Abendstündchen vermiesen lassen. Verrückte gab es immer und wird es immer geben. Ausgeschlossen schien es, dass jene berühmte Kulturstadt eines Tages am Fuße einer zweckdienlich errichteten Todesstadt läge. Geschichte mag manchmal verwinkelt und überraschend sein - darüber wäre man sich einig gewesen: aber so überrumpelnd, so ungerecht und unmoralisch könne und dürfe sie nicht sein. Beruhigen Sie sich, Frau Vulpius, hätten die Weimarer Gelehrten sie besänftigt, es ist wissenschaftlich fast gänzlich erwiesen, dass solcherlei Dinge hier niemals geschehen werden - überhaupt kann so ein unglaubliches Treiben nirgends in der christlichen Welt passieren - nie und nimmer! Wäre der verschrobene Prophet nicht genauso mysteriös vom Erdboden verschwunden, wie er einst plötzlich am Gartentor des Geheimrats aufgetaucht war - man hätte ihn vermutlich inhaftiert und in ein Irrenhaus verfrachtet. Zur Sicherheit der Allgemeinheit, versteht sich.
In Deutschland kann soetwas nicht passieren!, hört man auch heute noch. Zivilisiert sei man, geläutert durch die eigene Vergangenheit. Überdies gäbe es ein Grundgesetz, dass die Unmenschlichkeit absolut ausklammere - und überhaupt: man lebe ja schließlich nicht auf dem Balkan, bei den Hottentotten oder im Sudan! Man lebe im kultivierten Teil der Welt. Weist man dann auf die gesellschaftlichen Entwicklungen hin, auf das Aufkochen alter Ressentiments gegen Ausländer, die man in nutzvolles und unbrauchbares Humankapital kategorisiert; auf die latente Pogromisierung gegen Erwerbslose, die man öffentlich brandmarkt und verspottet; auf die Stimmungsmache gegen Senioren, die lang leben und dabei auch noch Geld erhalten wollen - weist man auf solcherlei hin und deutet prophetisch in eine mögliche, hoffentlich aber nicht uns widerfahrende Zukunft, in der durchaus wieder darüber nachgedacht werden könnte, wie man der unliebsamen und überflüssig gewordenen Menschen Herr wird, so fühlt man sich wie jener fiktionale Seher aus Weimar.
Fortschrittlich oder kulturell herausgeputzte Ist-Zustände kranken gar jämmerlich an Überheblichkeit. Es mangelt ihnen an seherischer Gabe und an der Bereitschaft, Mahnungen mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Für jene damals war es unglaubhaft, dass in direkter Nachbarschaft zu Goethes Haus und seinem geistigen Erbe, das schlimmste Inferno ausbrechen würde, das der Mensch je dem Menschen bereitet hatte. Und doch ist es geschehen! Die hohe Kultur, die in Hörweite zu jenem Dichter und Denker stand, der wie kein anderer die deutsche Sprache und Literatur prägte, sie konnte die ausbrechende Hölle am Ettersberg nicht verhindern. Jorge Semprún, der selbst räumlich der gießenden Vulpius sehr nahe kam, wenngleich er sie auch zeitlich um gut 140 Jahre verpasste, würde viel später in seinem Buch "Was für ein schöner Sonntag" schreiben, dass er als Insasse Buchenwalds nie wirklich begreifen konnte, wie hier am Ort des Goethe dieses Grauen ausbrechen konnte. Dort wo Goethe als Blüte deutschen Erbes wanderte, marschierten nun das schäbigste Unkraut. Und er schreibt über jenen berühmten Baum: "Denn obwohl die SS-Männer ihn bei der Errichtung von Buchenwald verschont hatten, hatte eine amerikanische Phosphorbombe ihn bei dem Luftangriff 1944 in Brand gesteckt. In die Rinde dieses Baumes sollen Goethe und Eckermann ihre Initialen eingeritzt haben."
Hohe Kultur und Massenmord stehen manchmal eng beieinander - wenn nicht zeitlich, so doch räumlich. Goethe war keine Garantie für die Kontinuität kulturellen Flairs. Auch in Weimar setzen sich die Brüllfratzen durch - und schauten kollektiv weg, als am Ettersberg die Völker Europas geknechtet und geschlachtet wurden. Denen, die heute den düsteren Prophetien spotten, kann man nicht vorwerfen, dass sie sich als zivilisierte Menschen wähnen, die sie mehr oder minder ja auch sind - man muß sie aber tadeln, weil sie glauben, ihr bisschen Zivilisiertsein würde genügen, um neue Vernichtungs-, Eugenik- und Euthanasieprogramme zu vereiteln. Es wird sich nie wiederholen, weil wir heute aufgeklärter sind!, darf getrost als halbgebildete und selbstherrliche Phrase aufgefasst werden. Es wird sich wiederholen - auf die eine oder andere Weise. Es wird sich wiederholen, weil wir gar so sicher meinen aufgeklärt zu sein!
Man stelle sich nur vor, die Vulpius wäre damals von einem düsteren Propheten bei der Verrichtung ihrer Gartenarbeit gestört worden - von einem Künder, der gedankenschwanger mit dem Finger gen Ettersberg gedeutet hätte, dabei Colonel Kurtz' Ausruf vorwegnehmend: Das Grauen, das Grauen! Und auf Nachfragen der Vulpius hätte der gemütskrank wirkende Seher von dem erzählt, was mehr als hundert Jahre danach jene sehen würden, die das dort erbaute Tor zur Hölle durchschritten hatten. Ungeheuerlichkeiten für ein Ohrenpaar des 19. Jahrhunderts - unerhört und allerhand! Vielleicht hätte sie dem armen Irren ein Paar Groschen zugeworfen, ihm Trost zugesprochen und ihn mitleidig angelächelt - vielleicht hätte sie ihn auch verscheucht und darüberhinaus ausgelacht. Genau vermag man ihre Reaktion nicht mehr nachzuvollziehen, denn erstens ist all das zu lange her und, zweitens, so nie geschehen.
So oder so: es hätte hanebüchen geklungen, dass hier, in der Wiege hoher Kultur, an jenem Ort, wo Schiller wirkte und Goethe gerade noch am Wirken war, ein Reich der Marter und der Höllenqualen ausbrechen würde. Bei den Wilden dieser Welt - dort ja! Bei den Negern und Chinesen vielleicht, aber doch nicht in Weimar! Laß gut sein, Christiane, hätte der Dichter ihr geraten. Du wirst dir doch von so einem närrischen Kerl nicht unser lauschiges Abendstündchen vermiesen lassen. Verrückte gab es immer und wird es immer geben. Ausgeschlossen schien es, dass jene berühmte Kulturstadt eines Tages am Fuße einer zweckdienlich errichteten Todesstadt läge. Geschichte mag manchmal verwinkelt und überraschend sein - darüber wäre man sich einig gewesen: aber so überrumpelnd, so ungerecht und unmoralisch könne und dürfe sie nicht sein. Beruhigen Sie sich, Frau Vulpius, hätten die Weimarer Gelehrten sie besänftigt, es ist wissenschaftlich fast gänzlich erwiesen, dass solcherlei Dinge hier niemals geschehen werden - überhaupt kann so ein unglaubliches Treiben nirgends in der christlichen Welt passieren - nie und nimmer! Wäre der verschrobene Prophet nicht genauso mysteriös vom Erdboden verschwunden, wie er einst plötzlich am Gartentor des Geheimrats aufgetaucht war - man hätte ihn vermutlich inhaftiert und in ein Irrenhaus verfrachtet. Zur Sicherheit der Allgemeinheit, versteht sich.
In Deutschland kann soetwas nicht passieren!, hört man auch heute noch. Zivilisiert sei man, geläutert durch die eigene Vergangenheit. Überdies gäbe es ein Grundgesetz, dass die Unmenschlichkeit absolut ausklammere - und überhaupt: man lebe ja schließlich nicht auf dem Balkan, bei den Hottentotten oder im Sudan! Man lebe im kultivierten Teil der Welt. Weist man dann auf die gesellschaftlichen Entwicklungen hin, auf das Aufkochen alter Ressentiments gegen Ausländer, die man in nutzvolles und unbrauchbares Humankapital kategorisiert; auf die latente Pogromisierung gegen Erwerbslose, die man öffentlich brandmarkt und verspottet; auf die Stimmungsmache gegen Senioren, die lang leben und dabei auch noch Geld erhalten wollen - weist man auf solcherlei hin und deutet prophetisch in eine mögliche, hoffentlich aber nicht uns widerfahrende Zukunft, in der durchaus wieder darüber nachgedacht werden könnte, wie man der unliebsamen und überflüssig gewordenen Menschen Herr wird, so fühlt man sich wie jener fiktionale Seher aus Weimar.
Fortschrittlich oder kulturell herausgeputzte Ist-Zustände kranken gar jämmerlich an Überheblichkeit. Es mangelt ihnen an seherischer Gabe und an der Bereitschaft, Mahnungen mit dem nötigen Respekt zu begegnen. Für jene damals war es unglaubhaft, dass in direkter Nachbarschaft zu Goethes Haus und seinem geistigen Erbe, das schlimmste Inferno ausbrechen würde, das der Mensch je dem Menschen bereitet hatte. Und doch ist es geschehen! Die hohe Kultur, die in Hörweite zu jenem Dichter und Denker stand, der wie kein anderer die deutsche Sprache und Literatur prägte, sie konnte die ausbrechende Hölle am Ettersberg nicht verhindern. Jorge Semprún, der selbst räumlich der gießenden Vulpius sehr nahe kam, wenngleich er sie auch zeitlich um gut 140 Jahre verpasste, würde viel später in seinem Buch "Was für ein schöner Sonntag" schreiben, dass er als Insasse Buchenwalds nie wirklich begreifen konnte, wie hier am Ort des Goethe dieses Grauen ausbrechen konnte. Dort wo Goethe als Blüte deutschen Erbes wanderte, marschierten nun das schäbigste Unkraut. Und er schreibt über jenen berühmten Baum: "Denn obwohl die SS-Männer ihn bei der Errichtung von Buchenwald verschont hatten, hatte eine amerikanische Phosphorbombe ihn bei dem Luftangriff 1944 in Brand gesteckt. In die Rinde dieses Baumes sollen Goethe und Eckermann ihre Initialen eingeritzt haben."
Hohe Kultur und Massenmord stehen manchmal eng beieinander - wenn nicht zeitlich, so doch räumlich. Goethe war keine Garantie für die Kontinuität kulturellen Flairs. Auch in Weimar setzen sich die Brüllfratzen durch - und schauten kollektiv weg, als am Ettersberg die Völker Europas geknechtet und geschlachtet wurden. Denen, die heute den düsteren Prophetien spotten, kann man nicht vorwerfen, dass sie sich als zivilisierte Menschen wähnen, die sie mehr oder minder ja auch sind - man muß sie aber tadeln, weil sie glauben, ihr bisschen Zivilisiertsein würde genügen, um neue Vernichtungs-, Eugenik- und Euthanasieprogramme zu vereiteln. Es wird sich nie wiederholen, weil wir heute aufgeklärter sind!, darf getrost als halbgebildete und selbstherrliche Phrase aufgefasst werden. Es wird sich wiederholen - auf die eine oder andere Weise. Es wird sich wiederholen, weil wir gar so sicher meinen aufgeklärt zu sein!
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen