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Ist es nicht gemütlich?
Samstag, 30. Juli 2011
Er betrat das Haus, begutachtete die Zimmer, eilte daraufhin die Treppe nach oben und landete im Wohnzimmer. Noch im Türstock verharrend sah er, dass sich im Fenster der Schlot des Lagerkrematoriums abzeichnete. Näherte man sich diesem Fenster, so konnte man beinahe das gesamte Lager überblicken. Die Frau erklärte ihm, dass dies ihr Wohnzimmer sei. Und Ist es nicht gemütlich?, fragte sie ihn. Gérard rang mit den Worten, wahrscheinlich weniger in diesem Augenblick selbst, als später, da er sein Erlebnis zu Papier brachte. Fragte ihn die Alte doch tatsächlich, um es hier nicht gemütlich sei! Und im Fenster war der Schlot zu erkennen.
Er, der Schlot, war in den Fensterrahmen geklemmt, fast wie in einen Bilderrahmen. Bewunderte man vom Türstock aus das Zimmer, so glaubte man, es hänge ein Bild an der Wand, ein Gemälde von einem Krematoriumsschlot, eine grausam-romantische Zeichnung als Schmuck dieser gemütlichen Stube. Im Gemälde, das keines war, da verbrannten Leiber; ein Blick aus dem Fenster zeigte den Ort, an dem die Marter zum täglichen Ritus wurde. Ist es nicht gemütlich hier?
Saß die Alte etwa jeden Abend da, häkelte bei Kerzenschein, lungerte in ihrem bequemen Sessel, trank Tee, fraß Gebäck, während sich dort drüben, auf der Fensterbank, der Tod ausbreitete? Das heißt, nicht auf der Fensterbank selbst, aber sie war der Beobachtungsposten ins Totenreich hinüber, dort geriet das Verrecken ins Blickfeld. Diese Fensterbank, sie war der Vorposten, eine Landzunge zur Hölle, die in diese Gemütlichkeit schwappte.
Gérard geisterte dieses Ist es nicht gemütlich? noch Jahrzehnte später im Kopf herum. Diese Alte ging ihm nicht aus dem Sinn. Auch, dass sie ebenfalls erzählte, ihre beiden Söhne seien gestorben, gefallen an irgendeiner der vielen Fronten, die sich um das Reich schlängelten. Haderte die Alte etwa, wenn sie abends in ihrem Sessel saß? Haderte sie mit ihrem Leben? Mit dem Führer? Oder doch eher mit diesen feindlichen Subjekten, die man leider nicht alle per Zug an ihre Fensterbank fahren, zu ihrer Aussicht machen konnte? Wähnte sie sich leidend, wie niemand sonst, während vor ihrem Fenster eine kaltblütige Regentschaft Menschen zerrieb? Sah sie vor lauter Tod, den Tod nicht mehr? Hungerte sie mäßig, sodass sie den auszehrenden, erlahmenden Hunger vor ihrem Haus nicht erkannte? War die Gemütlichkeit, auf die sie stolz schien, der Rückzugsort? Schottete sie sich dort vom Gang der Welt ab, von Buchenwald und Söhnen, die ins Feld zogen und in Felder zurückblieben?
Gérard: so rief man Jorge Semprún damals. Und die kleine Parabel auf eine Welt, die scheinbar von Menschen verschieden wahrgenommen wird, und das selbst dann, wenn beide Welten unmittelbar aufeinandertreffen, nur durch eine Fensterbank geschieden sind, findet sich in seiner "großen Reise" wieder, die er 1944 antrat - die er angetreten gemacht wurde. Diese Fensterbank scheint vergänglich. In unseren Breitengraden wohnt niemand mehr am Rande eines Arbeitslagers, hat niemand mehr Ausblick auf Schornsteine, aus denen menschliche Leiber geblasen werden. Die Menschheit ist fortgeschritten, hat sich von archaischen Gemütlichkeiten losgelöst. Fortschritt! In diesem treuen Glauben an das Hier und Jetzt, wird gerne übersehen, dass es dieselben Gemütlichkeiten noch gibt. Fortschritt ist, wenn man eine Fensterbank nicht mehr braucht, wenn man sich nicht mehr gemütlich auf ihr abstützen muß, um ein Schauinsland, ein Schauinslager halten zu können - Fortschritt ist, nicht mehr direkt an Lagern hausen, in einem Zimmer mit Ausblick aufs Meer der Tränen leben zu müssen - Fortschritt ist, die Entbehrungen an Körper und Seele, die Gewalt, Unterdrückung und Unrecht aus dem bequemen Sessel heraus zu bestaunen, mit Fernbedienung, ohne Mühe, seine Ellenbogen auf das harte Holz einer Fensterbank zu pressen.
Unsere Fensterbank hat zuerst die Form eines schwerfälligen Kastens angenommen, später nahm sie die Gestalt einer relativ flachen Scheibe an. Bilderfluten vom Elend erreichen uns. Ausgehungerte Gestalten aber, die diesem Elend lebend entflohen, klopfen fürwahr nicht mehr an unsere Türen. Wir, die wir unsere Fensterbänke mit schönerer Aussicht belohnen, die wir unsere Welt für die Habenichts abriegeln, haben die Jammergestalten ausgesperrt. Das ging damals zu Weimar noch nicht, was die Alte, die Gérard Einlass gewährte, sicherlich bedauerte. Wenn wir demnächst fragen, ob es nicht wieder mal gemütlich sei, so denke man an dieses Fenster, in dem sich der Schlot Buchenwalds abbildete, man denke an das Wohnzimmer, das nur wenige Meter Luftlinie zu den Gebirgen von Leichen, seine Gemütlichkeit verströmte. Man erinnere sich daran, dass wir die wenigen Meter Luftlinie durch lange Reisen mit Luftfahrtunternehmen ersetzt haben und dass unser Fensterbrett, diese gemütliche Ablage für Blumentöpfe wie Ellen, erst in neuerer Zeit ein unschuldiges Dasein fristet - es gab Zeiten, da war es der Einblick in das Totenreich. Der ist heute im Sessel vorm dem Kasten, dort bluten, verhungern, verrecken Menschen. Ist es nicht gemütlich?
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